In Japan gibt es ein Gesetz mit dem wohlklingenden Namen
労働者派遣事業の適正な運営の確保及び派遣労働者の就業条件の整備等に関する法律
(rōdōsha haken jigyō no tekisei na unei no kakuho oyobi haken rōdōsha no shūgyō jōken no seibitō ni kansuru hōritsu)
– so zumindest der volle Name – hierzulande besser bekannt als das 労働者派遣法 (rōdōsha hakenhō) – das Gesetz zur Entsendung von Arbeitskräften. Dieses Gesetz regelt seit 1986 Leiharbeit in Japan, seit 2004 erlaubt es die Entsendung von Leiharbeitern in Betriebe des produzierenden Gewerbes. Im März 2006 wurde die erlaubte (bzw. je nach Gewerbe verlangte) Vertragsdauer für Leiharbeiter auf 3 Jahre verlängert.
Viele Firmen nahmen das Gesetz gerne an, darunter auch die Autobauer, die plötzlich Heerscharen von Leiharbeitern einstellten. Die meisten mit einem 3-Jahres-Vertrag, denn werden 3 Jahre überschritten, müssen die Firmen bessere Konditionen bieten.
Leiharbeiter bedeutet im Wesentlichen folgendes in Japan: Weniger Überstunden, aber kaum Aufstiegschancen. Weniger soziale Sicherheit. Und es gibt unzählige Leiharbeiter, die quer durchs Land geschickt werden. Etliche haben gar keine eigene Wohnung mehr, sondern wohnen in Leiharbeiterunterkünften.
Nun gleitete also auch Japan ab in die Rezession. Und im März 2009 steht die Vertragserneuerung für zigtausende Leiharbeiter an. Was machen also Autobauer und andere, von der Rezession stark betroffene Unternehmen? Sie schmeissen zuerst die Leiharbeiter raus. Und etliche Firmen haben damit bereits begonnen. Die Rezession trifft also hier (aber das ist ja nichts Neues) zuerst die, die sowieso schon nichts haben.
Aus schierer Not richteten Freiwillige und ein paar offizielle Organisatoren das 年越し派遣村 (toshikoshi haken-mura) ein – das “Jahreswechsel-Dorf für Leiharbeiter”. Insgesamt 505 Leiharbeiter ohne eigene Unterkunft verbrachten so den Jahreswechsel bis heute im Hibiya-Park: Zentraler geht es kaum, der Park liegt zwischen Ginza und Regierungsviertel.
Heute wurde das Lager aufgelöst und die Leute auf “Auffanglager” verteilt (z.B. Schulen), aber dort können sie auch nur bis zum 12. Januar bleiben. Es gab auch am Rande dazu eine kleine Demo der Leiharbeiter heute – schliesslich lagerte man ja gleich neben dem Regierungsviertel.
Man braucht kein Prophet zu sein, um zu sehen, dass da eine Zeitbombe tickt. Hunderttausende entlassene Leiharbeiter ohne Bleibe werden noch in diesem Jahr enorme soziale Probleme bereiten. Die Masse wird sich bestimmt nicht stillschweigend damit abgeben. Und Obdachlose sind ja vor allem in Tokyo schon seit langem mehr als allgegenwärtig. Die Lösung dieses Problems dürfte der Regierung dieses Jahr ganz sicher einiges an Kopfzerbrechen bereiten.
Mehr Lektüre dazu:
・Mickey Mouse von hinten – Obdachlose in Japan
・Webseite (!) des Jahreswechsel-Dorfs der Leiharbeiter
・Für Freunde spannender Lektüre: Gesetzestext des oben genannten Gesetzes (Japanisch).
Wörter des Tages gab es ja schon genug.
über die rolle der leiharbeiter habe ich schon viel gelesen und dass sie als erste dran glauben werden müssen, das war vorherzusehen. dass deren lage allerdings so dramatisch ist war mir nicht bewußt… bin mal gespannt wie die regierung darauf reagiert. eine sozial verträglichere lösung muss dann wohl nicht nur von der regierung, sondern auch von den unternehmen kommen. das bisherige personalmodell wird wohl einen neuen anstrich benötigen. sehr interessant das ganze…
so nebenbei, darf man fragen wie euer unternehmen strukturell aufgebaut ist? gibt es zum beispiel zeitarbeit? teilzeit?
Hola Meister
Erstmal wünsch ich dir und deiner Familie natürlich ein wunderschönes neues Jahr und freue mich, von dir aus und über Japan auch im 09 viel zu lesen :-).
Ich denke du hast recht mit der tickenden Zeitbombe. Ich frage mich nur, wie lange es dauert, resp. wie gross der Druck und Schmerz sein muss, bis die Japaner tatsächlich was ändern in ihrem System.
Was mich übrigens bei den Obdachlosen in Japan am meisten beeindruckte war die Sauberkeit und Ordnung welche sie um ihre Zelte hatten (2004). Ist dies heute auch noch so, oder sieht man da eine Veränderung? cheers, Felix
Ja das japanische Arbeitsrecht ist prinzipiell ein sehr gutes hartes… leider wurden da einige löcher “reingesprengt”.
Siehe obiges Gesetz.
Wie ist das eigentlich gibt es auch nach 12 Monaten irgendwas zu beachten?
Oder warum beschäftigen manche auch Leute gerne mit Jahresverträgen?
@Jakub
Wir beschäftigen nur im äussersten Notfall (und dann nur kurzfristig) Leiharbeiter. Es ist einfach mal Tatsache, dass nur Festangestellte eine ernsthafte Bindung mit ihrer Firma eingehen und alles für selbige machen.
@Felix
Auch Dir ein Gesundes Neues!
Obdachlose und Sauberkeit? Manche zaubern sich da schon beachtliche Bretterbuden zusammen, aber die Wörter “Ordnung” und “Sauberkeit” sind mir dabei noch nie eingefallen. Aber das liegt ja in der Natur der Sache.
@Michael
Da bin ich leicht überfragt, aber das hat wahrscheinlich wieder versicherungsbedingte Gründe. Kenne mich mit dem japanischen Arbeitsrecht nicht allzu gut aus, weiss nur, was Usus ist.
Naja, Sauberkeit war vielleicht das falsche Wort aber ordentlich schon. Speziell wenn ich da an Obdachlose in Amerika denke.. also die ziehen die Schuhe nicht vor dem Zelt aus ;-)
Bezüglich Zeitarbeiter…
in Deutschland haben VW, BMW, Airbus etc.pp (beliebig lange Reihe) auch erstmal alle “Leiharbeiter” und das sind auch bei denen nicht wenige, IIRC bei BMW 2-4 tausend Ing. die Zeitverträge NICHT verlängert.
War sogar in den Nachrichten ganz kurz nach dem Knall.
Ok es ist ev. nicht so übel wie mit den Leiharbeitern hier, aber auch in Deutschland ist man eher am Status des Rechtlosen dran.
(BTDT no fun!)
Leiharbeiter sein ist glaub ich in jedem Land suboptimal.
Nur in den USA so habe ich gehört, soll man als regulärer ev. noch rechtloser sein :/
Ein frohes neues Jahr!
Auch anderswo trifft es immer zuerst die Leiharbeiter und Teilzeitkräfte, das ist hier in .de auch nicht anders. Einige Firmen schicken ja schon ihre fest angestellten Mitarbeiter in Sonderurlaub oder stellen auf Kurzarbeit um. Und ich denke, da wird dieses Jahr noch so einiges auf uns zu kommen – weltweit.
Aber in Deutschland haben die Leute wenigstens ein Dach über dem Kopf – auch wenn sie rausfliegen (und seis nur mit Harz IV).
Was Japan angeht, so hatte ich bei meinem Urlaub in 11/2008 eigentlich noch den Eindruck, dass es deutlich weniger von den selbstgebauten Bretterbuden gab als noch 2006. Am Ufer des Sumida habe ich gar keine mehr gesehen, und im Ueno Park nur ganz am Rand einige vereinzelte. Oder wurden die da nur vertrieben?
Ich wünsche dir und deiner familie auch noch einen guten Start ins neue Jahr. Offensichtlich hast du den Weihnachtsausflug gut überstanden.
Ja, die Leiharbeiter oder sollte man lieber Frondienstschieber der Neuzeit sagen (?). Für Unternehmen sicher eine gute Sache , um Produktionsspitzen abzudecken. In der Zwichenzeit ist dieses Modell offensichtlich nicht nur in der BRD ausgeartet und zum allgemeinen Beschäftigungmodell mutiert.
Offensichtlich sind die Leiharbeiter in Japan aber noch extrem schlechter abgesichert, als hier in diesem unseren Lande. Wie kommt es, dass bei Beendigung des Leiharbeitsverhältnis die leiharbeiter gleich ohne Wohnung da stehen?
@Jakub
Sozialverträgliche Lösungen von Unternehmen? Wenn sowas von der Regierung kommt, können sich die Betroffenen schon freuen. Unternehmen sind mit derartigen Lösungen wohl eher auf dem Kriegsfuß. Aber: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und vielleicht haben die Leiharbeiter mehr Arsch in der Hose, als mein allgemeines Vorurteil bezüglich der japanischen Protestmentalitätzuöässt.
Zwei Anmerkungen:
abgleiten -> glitt ab
Und “allgegenwaertig” wuerde ich die Obdachlosen in Tokyo eher nicht nennen. Sicher am 都庁 und ab und zu auch an unterirdischen Gaengen bzw. Strassenraendern findet man sie schon ab und zu, aber zahlenmaessig ist das kein Vergleich zu z.B. Berlin.
(Nebenbei finde ich es sehr angenehm, dass man praktisch NIE angebettelt wird.)
@Marcus
Nur vertrieben. Sowohl in Tokyo als auch in Osaka.
@Terry
Auch Euch ein Gesundes Neues! Hoffe Ihr hattet viel Spass beim Urlaub.
Zu Deiner Frage – die extreme Klasse der Leiharbeiter kann auch als Wanderarbeiter bezeichnet werden – die werden für bis 3 Jahre zu Firmen in der Provinz geschickt, und da Bahnfahrten und Mieten sehr teuer sind, lassen sie sich dort in firmeneigenen Wohnheimen nieder. Wenn sie dann nicht verlängert werden oder keinen anderen Job finden, sind es schlagartig sehr schlecht aus.
@Lori
Oh ja. Ist mir selbst beim zweimaligen Lesen nicht aufgefallen. Sollten sich diese einfachen Fehler häufen, werde ich wohl bald auf Englisch oder Japanisch schreiben… traurig.
Ich habe den Beitrag wie immer überaus spannend gefunden und werde mal genauer hinsehen, wenn ich im April nach Tokyo gehe (Austauschsemester ;-)
Zu dem erwarteten Kopfzerbrechen was die Lösung des Problems angeht: Die Japan Times berichtet heute, dass wegen Einsprachen von Anwohnern einer Gemeinnützigen Organisation verboten wurde, Gratis-Essen an Obdachlose abzugeben. Und das vom, wie mir scheint, überaus hilfreichen “Metropolitan Government”.
Angesichts der Wirtschaftskrise stimme ich mit dem Autor des Artikels überein und frage ich mich, ob dies der richtige Moment ist, die Freiwilligenarbeit jener zu unterbinden, die versuchen zu helfen.
Link zum Artikel:
http://search.japantimes.co.jp/mail/nn20090110a2.html
P.S.: Mal schauen, wie’s im Moment in Ueno aussieht; 2006 waren während des Sommers überall Obdachlose beim Bahnhof..
http://www.handelsblatt.com/politik/international/warum-die-krise-japans-regierung-bedroht;2120543
wo wir schon bei artikeln zum thema sind ;-)