“Sanzan” bedeutet “drei Berge”, “Dewa” ist der alte Name der Provinz im Nordosten von Honshu (Dewa-no-kuni). “Dewa” stammt möglicherweise vom Ainu-Wort “dawa” ab, welches “Lachs” bedeutet. Das ist allerdings nur eine Theorie und nicht ganz sicher.
Lage:
Die drei Berge von Dewa liegen rund 350 km Luftlinie nördlich von Tokyo, inmitten der Präfektur Yamagata, zwischen Sakata und Yamagata Stadt, wobei Sakata etwas näher liegt.
Ansehen:
Die drei heiligen Stätten in Haguro-san, Gassan und Yudono-san. Die Landschaft – die Gegend um den Gassan ist ideal zum Bergwandern.
In etlichen Reiseführern steht geschrieben, dass die Dewa-Sanzan ein Heiligtum darstellen, das jeder in Japan kennt. Das stimmt so nicht – sehr viele Japaner haben den Namen noch nie gehört, und wissen dementsprechend nicht, worum es geht. Zudem sind die Drei Berge kein allgemein bekanntes Ausflugsgebiet. Das liegt unter anderem daran, das es in Japan unglaublich viele religiöse Stätten gibt – die Konkurrenz ist gross – und daran, dass es hier um eine besondere, nicht sehr verbreitete Glaubensrichtung geht – den 修験道 Shūgendō – eine alte japanische Religion, die sich verschiedener Elemente anderer Religionen wie dem Buddhismus, Taoismus aber auch des Shintōismus bedient. Ein zentraler Bestandteil dieser Religion ist das Praktizieren diverser Rituale, zu denen auch ein asketischer Aufenthalt in den Bergen gehört. Shugendo-Anhänger ziehen dazu mehrere Tage in die Berge, wo sie als sogenannte 山伏 Yamabushi diverse Übungen absolvieren – zum Beispiel das Stehen unter einem Wasserfall. Dabei tragen sie fest definierte Kleidungen und Gegenstände mit sich – 16 an der Zahl. Yamabushi lernten zumindest in der Vergangenheit auch noch zu kämpfen und spielten in diversen Konflikten eine Rolle, so dass sie heute vor allem im Ausland ähnlich wie die Ninja zum Beispiel glorifiziert werden.
Über den Berg from Fritz Schumann on Vimeo. Fritz Schumann ist ein sehr begabter Fotograf aus Deutschland, der schon mehrfach aus Japan berichtet hat.
Begründet wurde die Religion vom legendärem Mönch 役小角 En-no-Ozuno (auch unter dem Namen 役行者 En-no-Gyōja, En der Asket bekannt) im 7. Jahrhundert, und sie fand stetig Anhänger, ohne dabei jedoch im Konflikt zu den beiden grossen, für lange Zeit untrennbar verbundenen Religionen des Buddhismus und Shintōismus zu stehen. Als man im Zuge der Meiji-Restauration jedoch damit begann, die beiden Religionen strikt zu trennen, passte Shugendo nicht in das Konzept und wurde kurzerhand verboten, doch viele Anhänger praktizierten die Religion heimlich weiter. Heute ist die Religion natürlich wieder erlaubt, aber sie ist eine Nischenreligion, die vielen nicht bekannt ist. Die Dewa-Sanzan sind für die Shugendo-Anhänger in etwa das, was der Kailash für Buddhisten und Hinduisten ist (mit dem Unterschied, dass die Dewa-Berge bestiegen werden dürfen/sollen).
Haguro-san 羽黒山 – “die Geburt”
Traditionell beginnt der Pilgerweg am Haguro-san, dem mit 414 Metern kleinsten der drei Dewa-Berge. Dank der geringen Höhe ist dieser Berg ganzjährig erreichbar – und das sogar mit Bus oder Auto. Vom Haguro-san geht es dann traditionell über den Gassan bis hin zum Yudono-san beziehungsweise den grossen Schrein am Yudono-san. Haguro ist auch der Name der Gemeinde (Haguro-chō) am Fusse des Berges, welche wiederum zur Stadt Tsuruoka gehört. In der Gemeinde gibt es über ein Dutzend 宿坊 shukubō – traditionelle Pilgerherbergen.
Vom Ort führt eine 2’446 Stufen lange Steintreppe auf den Gipfel des Haguro-san, und bereits auf dem Weg dorthin gibt es sehr viel zu tun – so steht im Wald versteckt die alte 五重塔 Gojūtō (Pagode). Die gut 29 Meter hohe Pagode wurde wahrscheinlich rund um das Jahr 1369 gebaut und ist somit rund 650 Jahre alt – beachtlich für ein Holzbauwerk. Gleich in der Nähe gibt es auch den schönen Wasserfall 祓川と須賀の滝 (Haraigawa & Suga-Wasserfall) sowie ein paar weitere Schreinbauten. Doch selbst der Wald ist aufregend genug, stehen hier doch bis zu 1’000 Jahre alte japanische Zedern (sugi) herum.
Auf dem bewaldeten Gipfel des Haguro-san steht der imposante 三神合祭殿 Sanjin-Gōsaiten – ein 28 Meter hohes Gebäude mit rot bestrichenen Zedernholzstämmen und einem gut 2 Meter dicken Strohdach. Das Schreingebäude ist den drei Gottheiten der drei Berge von Dewa gewidmet und wurde in der heutigen Form im Jahr 1818 vollendet. Aufzeichnungen zufolge haben sage und schreibe gut 55’000 Menschen an dem Bauwerk gearbeitet – darunter rund 35’000 Schreiner. Einzig der rote Anstrich ist neu – ursprünglich war das Gebäude dunkelrot, doch 1972 wurde der Bau zum Gedenken an das 1’380-jährige Jubiläum des Dewa-Schreins zinnoberrot gestrichen (eine für Schreine durchaus typische Farbe). Im Jahr 2000 wurde der Sanjin-Gosaiten zum Nationalen Kulturerbe erklärt.
Der Geschichtsschreibung zufolge begann die Geschichte der drei heiligen Berge von Dewa mit dem 蜂子皇子 Prinzen Hachiko – seines Zeichens ältester Sohn des Kaisers Sushun, der als 32. Tennō das Land von 587 bis 592 u.Z. regierte. Der Kaiser wurde 592 vom mächtigen Soga-Clan ermordet und Hachiko somit zur Flucht gezwungen. Er floh die Japanmeerküste entlang in den kaum erschlossenen Nordwesten der Insel Honshu und liess sich letztendlich in der Dewa-Gegend nieder, wo er Zuflucht in der Religion fand und die drei heiligen Berge von Dewa “erschloss”. Dort lebte er bis zu seinem Tod im Jahr 641, weitab vom eigentlichen Geschehen im Westen Japans. Obwohl Prinz Hachiko nie Tenno wurde, spielte er in der Geschichte der kaiserlichen Familie dennoch eine grosse Rolle. Seine Grabstätte auf dem Haguro-san wurde bis Ende des 2. Weltkrieges rund um die Uhr von Soldaten der kaiserlichen Garden bewacht. An den Prinzen erinnert heute vor allem der kleine, aber filigrane 蜂子神社 Hachiko-Schrein. Der 1619 gebaute Schrein war eigentlich früher ein Tempel und beherbergt nunmehr eine Holzstatue von Hachiko. Diese kann man aber nur sehr, sehr selten sehen – der Schrein bleibt für gewöhnlich abgeschlossen.
Gassan 月山 – “der Tod”
Der höchste Berg der drei Dewa-Berge ist der Gassan – ein 1’984 Meter hoher, sehr ausladender Berg mit dem gleichnamigen Schrein direkt auf dem Gipfel. Wörtlich übersetzt bedeutet der Name “Mondberg”, und der Gipfel gehört zu den 100 berühmtesten Gipfel Japans – mehr zum Gassan und zum Aufstieg auf den selbigen siehe hier.
Der Gassan ist ein Schildvulkan, dessen Gipfel wahrscheinlich beim letzten Ausbruch vor rund 300’000 Jahren entscheidend geprägt wurde. Dazu zählt eine rund 2,5 Kilometer lange, hufeisenförmige Caldera in Gipfelnähe. Heute gibt es keine vulkanischen Aktivitäten mehr am Berg. Aufgrund seiner exponierten Lage sind die Niederschlagsmengen vor allem im Winter enorm, so dass der Gipfel im Winter über viele Monate lang quasi unpassierbar ist. Am Fuße des Berges gibt es ein paar Skigebiete.
Es gibt verschiedene Routen auf den Berg — die einfachste Route ist die aus dem Norden, vom Haguro-san, da der Weg an der 8-gōme (8. Station — die 10. Station ist immer der Gipfel, die erste Station der Fuss des Berges). Wer gemächlich läuft, braucht sowohl für den Hinweg als auch für den Rückweg jeweils knapp 3 Stunden.
Die Route vom Yudono-san, ist nicht wesentlich länger, aber im ersten Drittel geht es auf einer Strecke plötzlich 250 Höhenmeter rauf – zu einem guten Teil mittels Metallleitern. Man klettert quasi aus einem Trogtal heraus auf eine Hochebene. Hier legt man auch rund 300 Höhenmeter mehr als auf der Haguro-san-Route. Da diese Route sehr rutschig ist, sollte man genau auf das Wetter und das richtige Schuhwerk achten.
Direkt auf dem Gipfel steht der über 1’000 Jahre alte 月山神社 Gassan-Schrein. Dieser Schrein ist 月読尊 Tsukuyomi-no-Mikoto, dem Mondgott, geweiht. Der Schrein ist nicht sonderlich gross (mangels Platz auf dem Gipfel), und dennoch war er eine zeitlang der einzige “Schrein nationaler Bedeutung” in der Tohoku-Region.
Yudono-san 湯殿山 – “die Wiedergeburt”
Der zweite Berg nennt sich Yudono-san und ist entweder 1’500 Meter oder 1’504 Meter hoch – so genau scheint man das nicht zu wissen, denn man findet beide Angaben. Der Gipfel liegt gut 4 Kilometer Luftlinie südwestlich des Gassan. Im Gegensatz zum Gassan liegt der Gipfel jedoch abseits der üblichen Routen – die meisten Besucher besteigen diesen Berg nicht, und auf dem flachen Gipfel gibt es auch keinen Schrein oder ähnliches. Der Berg als solches ist nicht sehr prominent – rundherum gibt es höhere Gipfel. Die Gegend um den Gipfel ist jedoch als Skigebiet bekannt und beliebt, und man kann auf Skiern bis auf den Gipfel rauf.
Wenn vom Yudonosan die Rede ist, meint man meistens den 湯殿山神社 Yudonosan-Schrein am Fusse des Berges. Dieser wird normalerweise als letzter der drei Dewa-Schreine besucht – nach dem Hagurosan (Geburt), Gassan (Tod), denn der Yudonosan symbolisiert die Wiedergeburt. Traditionell steigt man also vom Gassan zum Yudonosan-Schrein ab. Das muss man heute nicht mehr machen, wenn man es nicht möchte, denn wenige hundert Meter unterhalb des Schreins gibt es einen Parkplatz, eine Bushaltestelle diverse Restaurants und dergleichen.
Der Schrein liegt in einem Tal und fällt bereits von weitem auf, denn am Eingang steht ein grosser, wie üblich leuchtend rot-orangener Torii. Früher wurde gesagt, dass man nicht darüber reden darf, was im 境内 keidai, dem Schreininneren, passiert. In gewisser Weise setzt man die Tradition auch heute noch um – im Inneren herrscht striktes Kameraverbot. Innerhalb des Schreins gibt es unter anderem einen von heißem Quellwasser umspülten Felsen, den man mehrfach – barfuss – umrunden soll. Vorsicht – akute Rutschgefahr!
Umgebung
Rund um die drei Berge von Dewa gibt es in erster Linie: Weitere Berge, weitere Tempel und Schreine, und weitere Skigebiete. Die Gegend ist auch bekannt für die sogenannten 即身仏 sokushinbutsu – bei lebendigem Leibe mumifizierte Mönche. In Japan sind 17 solcher Mönchsmumien bekannt – davon befinden sich 8 in der Präfektur Yamagata und drei davon wiederum gleich westlich der Dewa-Sanzan. So befindet sich eine Mumie im 本明寺 Honmyōji, einem ganz kleinen Tempel in Higashi-Iwamoto, zwischen den Dewa-Bergen und Tsuruoka. Die buddhagewordene, sterbliche Hülle erhielt nach dem Tod den Namen 本明海上人 Honmyō Kaishōnin. Der Mönch entstammte der Kriegerkaste und begann mit der Prozedur 1680. Im Alter von 58 Jahren fasste er den Entschluss, zum Sokushinbutsu zu werden, und gab bekannt, dass dies wohl nach 3 Jahren und drei Monaten so sein wird. Und so geschah es dann auch – 1683 war der langwierige (und sicherlich sehr schmerzvolle Prozess, mehr dazu siehe hier) Prozess beendet, und die mumifizierte Leiche wurde aus dem Erdloch geholt. Damit ist diese Mumie eine der ältesten in der Region, und – auch das ist selten – der Ort, an dem die Prozedur stattfand, ist bekannt und auch heute noch erhalten.
Der Honmyoji ist sehr klein und wenig bekannt. Wer den Sokushinbutsu sehen möchte, muss sich normalerweise telefonisch anmelden (Telefonnummer: 0235-53-2269). Mit etwas Glück ist vielleicht jedoch der Priester oder seine Frau zu Hause und gewillt, den normalerweise geschlossenen Schrein zu öffnen.
Die Dewa-Berge umfassen ein weites Gebiet und liegen auf dem tiefsten Land – Bahnlinien sind weit von den Bergen entfernt. Wer nicht mit eigenem Gefährt unterwegs ist, ist deshalb auf Busse angewiesen – die fahren zum Beispiel von Yamagata Stadt und der Stadt Tsuruoka bis zum Yudono-san und zum Haguro-san. Allerdings fahren nur wenige Busse (von Yamagata Stadt bis zum Yudono-san z. B. nur 3 bis 4 pro Tag), so dass eine Tagesfahrt zu den Dewa-Bergen schwer ist bzw. sich kaum lohnt.
Vor allem am Fusse des Haguro-san gibt es Dutzende 宿坊 shukubō – Pilgerherbergen. Früher waren diese Herbergen nach Provinzen beziehungsweise später Präfekturen eingeteilt – es gab also Herbergen nur für Pilger aus Chiba zum Beispiel oder Aomori. Ausserdem durften hier früher auch nur Pilger und Mönche übernachten. Das ist heute nicht mehr so, und so kann man auch als Ausländer problemlos unterkommen. Pilgerherbergen beherbergen meist auch einen Priester, einen Andachtsraum sowie Mönche. In vielen Shukubō kann man deshalb als Gast oft rituellen Handlungen beiwohnen – und erfahren, was Mönche so essen, denn serviert wird oft 精進料理 shōjin ryōri – buddhistische Küche, und in der gibt es besonders viel zu beachten. Kurz und (nicht sehr präzise) bedeutet buddhistische Küche in Japan meistens zum einen, dass das Essen vegetarisch ist, und zum anderen, dass keine Geschmäcker / Zutaten erlaubt sind, die einen “Konflikt erzeugen” – ein Konzept, das beim Essen schwer zu verstehen ist, aber prinzipiell bedeutet es, dass Zutaten mit einem starken Geschmack gemieden werden – Knoblauch zum Beispiel, oder jegliche Form von Schärfe.
Ein Beispiel für eine Tempelherberge in Haguro ist 大進坊 Daishinbo (Adresse: 997-0211 Yamagata Pref., Tsuruoka-shi, Haguro-machi, Toge-aza, Toge 95, auf japanisch: 〒997-0211 山形県鶴岡市羽黒町手向字手向95, Telefon: +81-(0)235-62-2372). Als einzeln Reisender bezahlt man dort circa 9,000 Yen – im Preis inbegriffen ist ein echtes Shōjin-Essen am Abend (siehe Foto), ein üppiges Frühstück (japanisch, natürlich) sowie eine Andacht, der man am Morgen beiwohnen darf – inklusive 厄払い yakubarai (ein Gebet, um Schaden vom Gast fernzuhalten – inkl. Nennung von Namen und Wohnort). Alles in allem eine sehr interessante Erfahrung. Man kann sich vor Ort übrigens auch beim Training einer Yamabushi-Gruppe anmelden und mit den Pilgern einen oder mehrere Tage verbringen.
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt.
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