Das Attentat auf Ex-Premierminister Shinzo Abe ist noch nicht mal ein Jahr her, da gab es plötzlich am vergangenen Sonnabend, dem 15. April 2023, ein déjà vu: Wieder war es ein junger Mann, der sich an eine Wahlkampfveranstaltung heranschlich – und plötzlich einen zylinderartigen Gegenstand mit außen angebrachten Drähten Richtung – dieses Mal amtierender – Ministerpräsident Kishida schleuderte. Was dann folgte, geschah in wenigen Sekunden und wurde von Kameras gut festgehalten: Die Personenschützer stießen den Gegenstand mit den Füßen weg und schützten den Premierminister umgehend mit einer splitterfesten Matte. Zwei gestandene Fischer unter den Zuhörern reagierten ebenfalls blitzschnell und hinderten den Mann daran, einen zweiten Gegenstand Richtung Kishida zu schleudern. Sie überwältigten, zusammen mit einem Beamten, den Attentäter, der dabei keine sichtbare Gegenwehr leistete. Gut 50 Sekunden nach dem Wurf des ersten Gegenstandes explodierte der selbige mit einem lauten Knall und einer weißen Wolke. Der Gegenstand war nur einen Meter von Kishida entfernt gelandet, doch da es sich offensichtlich um eine Bombe mit Verzögerungsmechanismus handelte, war Kishida längst in sichere Entfernung gebracht worden.
Das ganze geschah an einem kleinen Fischerhafen in der Präfektur Wakayama, südlich von Osaka — die nächsten Kommunalwahlen finden am 23. April statt, und bis dahin ist Wahlkampf. Der Attentäter, identifiziert als der 24-jährige Ryuji Kimura, kam natürlich sofort ins Polizeigewahrsam, doch da schweigt er sich bisher gründlich aus. Laut Polizeiangaben war seine einzige Aussage bisher, dass er nur bereit ist zu sprechen, wenn ihm ein Anwalt an die Seite gestellt wird, und das wird natürlich bald geschehen. Ansonsten gab er bisher keinerlei Angaben – weder zum Motiv noch zur Tatwaffe, noch zum Inhalt seines Rucksacks, den die Polizei noch immer nicht geöffnet hat, weil man mangels Kooperation des Täters nicht sicher ist, was drin sein könnte.
Die Medien stürzten sich natürlich sofort auf Nachbarn und Bekannte des Attentäters. Dort wird er als relativ verschwiegen beschrieben – und aus einer Familie stammend, in der es oft Streit mit dem Vater gab, wobei der Vater sich wohl in den letzten Jahren immer rarer machte. Das einzig nennenswerte Detail war bisher lediglich, dass Kimura sich wohl an einer Versammlung des Stadtrats seiner Heimatgemeinde beteiligt hatte – dafür muss man sich extra anmelden. Doch offensichtlich kann sich niemand daran erinnern, was er dort genau sagte oder tat.
Über die selbstgebaute Bombe herrscht Uneinigkeit, und sie bleibt ein Rätsel. Erst hiess es, sie war bewusst so gebaut, dass sie einen Menschen nicht töten kann. Nun heisst es, dass es sich um eine primitive Rohrbombe handelte, die, ähnlich wie die beim tödlichen Attentat auf die Zuschauer des Boston Marathons 2013 verwendete Bombe, durchaus das Potential hatte, jemanden wenn nicht zu töten so doch zumindest schwer zu verletzen. Die Frage, die nun viele beschäftigt, ist die, warum die Bombe erst nach einer knappen Minute detonierte. Hatte sich der Attentäter verrechnet? Oder hatte er die Bombe bewusst so gebaut, damit jeder genug Zeit hat, sich in Sicherheit zu bringen? Das wird später sicherlich bei der Frage, ob eine Mordabsicht hinter der Aktion steckte oder nicht, von Bedeutung sein.
Das Attentat macht jedoch – wieder einmal – deutlich, dass die Politiker in Japan nicht ganz ungefährlich leben. Vor allem im Wahlkampf ist das Bad in der Menge ein absolutes Muß, und das schließt auch den Premierminister und die Minister mit ein. Und da die Termine vorher bekanntgegeben werden, ist es – bisher zumindest – ein leichtes Spiel für einen potentiellen Attentäter, seinem Opfer nahe genug zu kommen, um Schaden anzurichten. Immerhin scheint der Personenschutz seit dem Abe-Attentat hinzugelernt zu haben – die Reaktionen waren blitzschnell und offensichtlich erfolgreich. Bei der Vorbeugung hapert es natürlich – es gab keinerlei Gepäckkontrollen vor Ort, und offensichtlich fiel der junge Mann keinem der Beamten auf – dabei wäre das nun doch nicht so schwer, denn bei diesen Veranstaltungen sind junge Leute eigentlich sehr selten zu sehen – und das auch noch mit einem größeren Rucksack.