BlogLangweilige Unterhauswahlen und ein verhängnisvoller Amoklauf

Langweilige Unterhauswahlen und ein verhängnisvoller Amoklauf

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Am 31. Oktober waren gut 105 Millionen aufgerufen, das Unterhaus zu wählen. Japan hat ein Zweikammersystem – alle vier Jahre werden alle Abgeordnete des Unterhauses, und alle drei Jahre die Hälfte des Oberhauses gewählt. Die Unterhauswahl ist die wichtigste Wahl des Landes, bestimmt sie doch die Landespolitik für die nächsten vier Jahre. Und – das Unterhaus hat im Zweifelsfall die Entscheidungsgewalt, denn es kann das Oberhaus überstimmen.

Noch sind nicht alle Stimmen gezählt, aber der Trend ist deutlich. Die Wahlbeteiligung war mit rund 55 Prozent die zweitschlechteste seit dem Ende des 2. Weltkrieges. Und die Liberaldemokraten haben mal wieder überdeutlich gewonnen: 465 Sitze waren zu vergeben, und gegen Mitternacht hatte das ewige Regierungsbündnis von Liberaldemokraten und Kōmeitō bereits 261 Sitze sicher und damit die absolute Mehrheit. Die Opposition gewann bis zu dem Zeitpunkt gerade mal 139 Sitze. Die mit Abstand stärkste Oppositionspartei ist die 立憲民主党 Rikken Minshutō – die 2017 gegründete Konstitutionell-Demokratische Partei.

Bei den Interviews am Wahlabend fiel mir dabei eins mal wieder auf: Die Kandidaten der regierenden Liberaldemokraten benutzen liebend gern das Wort „続く“ tsuzuku – das bedeutet „fortführen, weitermachen“. Dass es da bei den Menschen nicht klingelt, wundert mich immer wieder, denn das Wort bedeutet im Fall der Liberaldemokraten einfach nur Stagnation: Die Wirtschaft krebst seit drei Jahrzehnten vor sich hin, die Einkommen entwickeln sich überall weiter, nur nicht in Japan, und die Einkommensschere wird immer größer. Weiter so? Ehrlich?


Überschattet wurde der Wahlabend von einem schweren Zwischenfall: Ein 20-jähriger griff in einem Zug der privaten Keiō-Bahnlinie in Chōfu, einem Stadtteil westlich des Zentrums von Tokyo, wahllose Fahrgäste mit einem Messer an. Danach verschüttete er eine brennbare Flüssigkeit und zündete bei voller Fahrt einen Waggon an. Es gibt mindestens einen Schwerverletzten und 17 Leichtverletzte. Es mangelt noch an Informationen über den Hintergrund, aber es wird sicherlich die Tat eines Einzeltäters gewesen sein. Wahrscheinlich fällt der Täter in die 通り魔 tōrima („vorbeiziehender Teufel“)-Kategorie: Da hat jemand Hass auf die Gesellschaft und alle Mitmenschen entwickelt und den Plan gefasst, so viel unbeteiligte Menschen wie möglich in den Tod zu reissen. Leider kommt das in Japan relativ häufig vor, und eine Vorbeugung ist schwer, denn diese Menschen hecken diese Pläne ganz allein in ihren Kämmerchen aus – die Umwelt bekommt meistens nichts davon mit, bis es zu spät ist.

tabibito
tabibitohttps://japan-almanach.de
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

4 Kommentare

  1. Hallo,
    ja, die Tendenz sich nicht mehr um Politik zu kümmern ist wohl überall am wachsen, gerade auch bei den jüngeren Menschen. Wir vergessen gerne was für ein Privileg es ist Einfluss nehmen zu können, und wie gut wir es haben, da eine komplette Generation, in vielen Ländern, keinen Krieg erlebt hat, klingt pathetisch ist aber so.
    Wobei ich auch zugeben muss, das ich mich auch immer öfters Frage ob es einen unterschied macht welche Partei an die Macht kommt, wirkliche Veränderungen erwartet kaum jemand.
    Amokläufer sind wirklich was schlimmes, Hass oder Wut auf das System währe ja noch zu verstehen, aber das man Unschuldige mitreissen will, entzieht sich meinem Verständnis total.

  2. „Die Wirtschaft krebst seit drei Jahrzehnten vor sich hin, die Einkommen entwickeln sich überall weiter, nur nicht in Japan, und die Einkommensschere wird immer größer. Weiter so? Ehrlich?“
    Das sagte ein Freund auch zum Ergebnis der Wahlen. Ich frage mich: könnte die Stagnation nicht auch Suffizienz bedeuten? Wenn ich überlege, dass die Einkommen nicht so stark auseinander liegen wie hier in Deutschland…das also ein Gleichgewicht gefunden wurde? …aber natürlich hat es auch Schattenseiten: viele unbezahlte Überstunden, eine sehr strenge Mirgrationspolitik, auch für qualifizierte Arbeitskräfte, damit Fachkräftemangel, der durch die eigene Bevölkerung nicht mehr bewältigt werden kann…
    Was würdest du dir wünschen in der japanischen Politik?

    • Die Frage nach der Suffizienz habe ich mir auch schon oft gestellt. Wie sehr kann eine Gesellschaft/Wirtschaft wachsen, beziehungsweise muss eine Wirtschaft überhaupt wachsen, wenn die Bevölkerung so stark altert und abnimmt wie die Japanische?

      Das Problem ist allerdings, dass auch in Japan prekäre Arbeitsverhältnisse stark zunehmen. Immer mehr Menschen, vor allem aber ältere Menschen und alleinerziehende Mütter, arbeiten schwer und können davon trotzdem kaum leben. Die Einkommensschere wird immer größer. Noch geht es, irgendwie — nicht wenige leben von dem, was die Eltern und Großeltern während des Booms in den 1980ern erwirtschaftet haben, aber es gibt eben auch immer mehr, die nicht auf Rücklagen oder Ererbtes zurückgreifen können.

      Was ich mir wünschen würde ist eine Politik, die sich mehr auf die Jüngeren konzentriert und nicht nur auf die Älteren. Gerechtere Bildungschancen. Freie Oberschulen und Universitäten – oder ein (besseres) Stipendiatssystem, dass auch Kindern aus einkommensschwachen Familien Zugang gewährt. Mehr Beschäftigungssicherheit. Ein höherer Mindestlohn, denn der ist in Japan einfach mal viel zu niedrig (rund 7 Euro).

  3. Ah, dass der Mindestlohn so niedrig ist, war mir gar nicht bewusst. Danke für diese Info. Ja, ich denke die Punkte sind alle sehr wichtig, die du genannt hast. Wenn eine verlässliche Stabilität für das Gros der Bevölkerung geschafft werden kann, ist schon sehr viel erreicht. Gibt es Bestrebungen in diese Richtung der neuen Regierung?
    Nachdem ich mich jetzt noch einmal mit dem japanischen Finanzboom der 80er beschäftigt habe, ist mein Eindruck, dass es nicht funktionieren kann, seit der Deflation der 1990er Jahre in Japan von einer stetigen Wirtschaftskrise zu reden. Denn der Boom der 80er war durch politische Prozessse künstlich herbeigeführt und hat der breiten Masse der Bevölkerung nicht gut getan, da Waren auf ein unvernünftiges Maß verteuert wurden. Das kann auch nicht Ziel einer guten Regierung sein – zwar on top an der Börse, aber gleichzeitig können sich viele Menschen der eigenen Bevölkerung die inländischen Waren nicht mehr leisten und müssen auf billigere Importe zugreifen. Ganz schön paradox. Die Deflation hat, so wie ich es verstehe, einfach nur dazu geführt, dass die japanische Wirtschaft wieder ein Niveau erreichte, dass auch für die Bevölkerung erreichbar war. Dazu gehörten aber natürlich auch ein Haufen negative Seiten wie vor allem verpufftes Geld, nicht mehr bedienbare Hausfinanzierungen… Vielleicht hat erst der Boom der 80er und die nicht mehr aufholbare Entwertung des Yen am Finamzmarkt der 90er zu der starken Einkommensschieflage in Japan geführt. Sicher sind das Ende der UdSSR und ein damit verbundenes Erstarken des chinesischen Marktes ab den 90ern – da nun mit einem Mal mehr Konsumenten verfügbar waren – auch wichtige Faktoren, die Japan nicht mehr konkurrenzfähig machten.
    VIelleicht sollten die alten Erfolge nicht so stark beweint werden und mehr Bewusstsein für Postwachstum und eine Konsolidierung der inneren Verhältnisse geschaffen werden.

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