Wo wir doch neulich erst beim Thema Shibuya waren – zum Beginn der Woche hatte ich die Gelegenheit, mal kurz in der nagelneuen, im August 2020 eingeweihten 横丁 yokochō von Shibuya vorbeizuschauen – die befindet sich direkt neben dem Bahnhof, im Rayard Miyashita Park-Komplex, und zwar in dessen Südteil. Zur Erinnerung: Bis zum kompletten Umbau des Parks stand hier eine Zeile heruntergekommener, kleinster Häuser, ein Fahrradparkplatz – sowie hier und da ein paar Zelte von Obdachlosen.
Aber eins nach dem anderen – was ist eine Yokochō? Einfach übersetzt handelt es sich um eine Seitenstraße, aber um das zu verstehen, sollte man einen kurzen Blick auf die traditionelle Stadtplanung am Beispiel von Edo (dem heutigen Tokyo) werfen. Ab dem 17. Jahrhundert begann man dort, planmäßig zu bauen – als Maßeinheit diente das 間 ma und das ist in Edo rund 1,91 Meter lang. Man schaffte Blocks, die jeweils 60 x 60 Ma, also knapp 120 x 120 m, lang waren. In der Mitte dieser Blocks befand sich ein 20 x 20 Ma großer Freiraum, der 会所地 kaishochi – dort wurde zum Beispiel Müll und Abwasser gesammelt, aber er diente sicherlich auch als Versammlungsort und Spielplatz. Rund um diesen Freiraum wurden 町屋敷 machiyashiki gebaut – die Untereinheit, die 5 Ma breit und 20 Ma lang (also 10 mal 40 Meter) gross ist.
Durch diese Machiyashiki verliefen jeweils kleine 路地 roji genannte Gassen, und entlang dieser Gassen nun entstanden die für die Gegend typischen, langen Wohnhäuser. Mit Ausnahme der Häuser, die der (vorderen) Hauptstraße zugewandt sind – diese wurden als Geschäfte genutzt. In jeder Machiyashiki gibt es ebenfalls einen kleinen Freiraum – mit einer Wasserstelle/Brunnen, einem gemeinsam genutzten Klo usw.
Aus Feuerschutzgründen begann man bald, neue Wege zwischen den Blöcken anzulegen, weshal diese erst “Shindō” (= neue Straße) genannt wurden. Davon gibt es zwei Typen: Endet diese Straße an einem Holztor, zum Beispiel, wenn dahinter ein Park, Tempel, Schrein oder dergleichen liegt, so nennt man die Straße “Yokomachi” (das kann allerdings auch Yokochō gelesen werden). Verbindet die neue Straße jedoch die vordere Straße mit der kleineren, hinteren Straße, dann nennt man dies Yokochō. Eine Nebenstrasse also, während man die roji, also die kleinen Wege innerhalb der Machiyashiki, als Nebengassen bezeichnen sollte.
Entlang der Yokochō liessen sich schnell Kneipen und andere Etablissements nieder – schließlich laufen dort viele Leute lang, aber ansonsten gibt es nicht viel Verkehr. Und obwohl in Japan alles regelmäßig zerstört und wieder neu aufgebaut wird, haben sich an einigen Orten – selbst an der Ginza! – die alten Strukturen erhalten. Das Erbe der Yokocho wird dabei durchaus gepflegt – diese traditionellen Kneipenzeilen sind in der Regel sehr eng, sehr laut, und es ist nicht immer ganz klar, wo eine Kneipe aufhört und wo die nächste anfängt.
Beim Neu- und Umbau von Shibuya hat man sich entschieden, eine waschechte Yokochō zu bauen – vor dem Eingang zum Miyashita-Park. Die Kneipengasse ist rund 100 Meter lang und besteht aus 19 verschiedenen Kneipen, die nahezu allesamt einer Region gewidmet sind – Tritt man herein, ist man erstmal in Okinawa (und links daneben Korea), dahinter folgt Kyushu, Shikoku usw. bis man in Hokkaido angelangt ist. In den Kneipen gibt es dann die jeweiligen Spezialitäten – in der Kyushu-Kneipe zum Beispiel rohes Pferdefleisch, oder in der Hokkaido-Kneipe zum Beispiel sehr viel rohen Fisch.
Schön ist, dass man teilweise auch draußen sitzen kann. Es ist ansonsten laut, eng und ausgelassen – hier kommt man schnell mit anderen Leuten ins Gespräch, da man ihnen ja quasi auf dem Schoß sitzt. Das Bestellsystem in der Shibuya Yokocho ist dabei interessant – an den Plätzen gibt es einen QR-Code, den man einscannt – und hernach mit LINE (dem allgegenwärtigen WhatsApp-Pendant in Fernost) alles bestellt. Englisch? Fehlanzeige. Aber immerhin sind die Speisekarten mit Bildern bestückt.
So schön die Yokochō auch ist – wie auch in den meisten anderen Yokochō sollte man hier keine kulinarischen Höhepunkte erwarten. Das Essen ist meist minderer Qualität und die Portionen oft sehr klein. Mit 5,000 Yen (rund 40 Euro) sollte man nicht erwarten, wirklich satt zu werden. Aber dafür sind die Yokocho ja auch nicht gedacht – es geht um die Stimmung. Und wer mutig ist, kann sich nach der Atzung auch noch in die Karaoke-Bars im 2. Stock begeben. Die sind allerdings auch preislich ziemlich weit oben angesiedelt.