BlogDas stille Bröckeln der japanischen Arbeitsfront

Das stille Bröckeln der japanischen Arbeitsfront

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Gendai Business, eine Wirtschaftsnachrichtenseite des Kodansha-Verlages, hat heute eine interessante Kolumne zum Thema “Mai-Krankheit” veröffentlicht¹. Die Kolumnistin spricht die Problematik junger Menschen an, die nach der Goldenen Woche (eine Kette von Feiertagen Anfang Mai) ihre gerade erst begonnene Arbeit (die meisten Schulabgänger/Uniabsolventen treten ihre erste Stelle am 1. April an) so mir nichts dir nichts einfach hinschmeißen. Das ist quasi eine extreme Manifestation der sogenannten 五月病 gogatsu-byō – Mai-Krankheit. Zur Erklärung: Bekanntermassen nehmen die meisten Japaner nur sehr wenig Urlaub (obwohl der gesetzlich zusteht), doch während der 4 Feiertage Ende April/Anfang Mai (siehe Feiertage in Japan) machen viele japanische Firmen, Dienstleister wie Einzelhandel, Transportwesen usw. ausgenommen, wirklich dicht, so dass die meisten frei haben, nach Hause oder woanders hin fahren – und danach nur ungern zum stressigen Alltag zurückkehren. Wer Glück hat, hat frühestens im August während der O-bon-Zeit ein paar Tage frei, wer Pech hat, erst wieder zum Jahresende. Dass erklärt leicht die mangelnde Motivation nach dem kurzen Urlaub.
Die Kolumnistin spricht dabei ein interessantes Phänomen an – das 自分はスペシャル jibun-wa-special (“Ich bin was ganz Besonderes”)-Syndrom bei jungen Frauen. Vor allem in grösseren Firmen ist das 上下 jōge (wörtlich: Oben-unten, Hierarchie) sehr wichtig, und immer mehr junge Japanerinnen haben ein Problem damit, ganz unten in der Hierarchie zu beginnen. Das Phänomen kennt man aus der westlichen Welt, in der Chantal-Maria und Kevin-Johannes von Kindesbeinen an eingeredet wird, dass sie etwas ganz, ganz Besonderes seien, doch dieser Erziehungsentwurf ist auch längst in Japan angekommen – vor allem bei der Erziehung von Mädchen, wie es scheint. Jungs hingegen wird eingeredet, dass sie die 大黒柱 daikokubashira (wörtlich: “Große, schwarze Säule” – sinngemäss: Stützpfeiler) der Familie sein müssen. Soll heissen, sie haben sich ganz der Arbeit zu widmen, dürfen sich dafür aber auch wie Paschas aufführen. Salopp gesagt.
Leider quantifiziert der Artikel nicht – es ist unbekannt, wie viele Neuanfänger wirklich die Arbeit hinwerfen, und vor allem, wie sich die Lage in den letzten Jahren diesbezüglich geändert hat. Allerdings kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, dass nicht wenige frischgebackene Angestellte ein Riesenproblem mit der Diskrepanz zwischen dem, was ihnen die elterliche Bildung und die Gesellschaft einflüstert, und dem, was die Arbeitswelt dann tatsächlich bietet, haben – und dementsprechend die Flinte ins Korn werfen. Das kann man unterschiedlich interpretieren. Als Optimist könnte man meinen, es sei doch gut, wenn sich die Leute nicht mehr alles gefallen lassen würden. Das ist sicherlich richtig. Als Pessimist (oder auch als jemand, der eben solche Leute einstellt), könnte man jedoch genauso gut anmerken, dass vor allem diese, ich nenne es mal “Prinzessinnenattitüde, Einstellung weder die Firma noch das Individuum weiterbringt. Klar ist jeder Mensch etwas Besonderes, und das sollte man seinen Kindern auch beibringen. Den Kindern jedoch beizubringen, dass sie nicht nur etwas Besonderes, sondern gar etwas Besseres seien, führt zu nichts, und das bekommt man auch auf dem japanischen Arbeitsmarkt zu spüren – einem Arbeitsmarkt, der bereits jetzt aufgrund der rapiden Überalterung der Gesellschaft eigentlich auf jede neue Arbeitskraft angewiesen ist. Gute Firmen mit ordentlichen Personalabteilungen und fähigen Managern können sich darauf vielleicht noch irgendwie einstellen, aber ein ständiges Kommen und Gehen der Angestellten können sich die meisten Unternehmen eigentlich nicht leisten. Immerhin besteht da noch etwas Hoffnung, dass die optimistische Sichtweise zu realen Veränderungen in japanischen Unternehmen führt – sprich weniger Hierarchiedenken, menschlichere Arbeitszeiten, Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau und so weiter und so fort.
¹ Siehe hier.

tabibito
tabibitohttps://japan-almanach.de
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

7 Kommentare

  1. Es wäre schön für die japanische Arbeitswelt, wenn unter dem Strich etwas positives dabei heraus kommt. Schlau, statt hart zu arbeiten, sowie die Anerkennung dessen, wäre vielleicht ein erster Schritt.
    Der zweite Schritt muss auf jeden Fall in der Entsorgung aller Faxgeräte bestehen.

  2. Mir fehlen da Informationen. Wer sagt denn, dass diese jungen Frauen nicht aufhören, weil sie im Büro anders behandelt werden als die Männer, obwohl sie gleiche Abschlüsse haben?
    Ich würde auch nicht alles den Eltern zuschieben. Japanische Unis, selbst “gute” Unis, verlangen wenig von den Studenten, kein Wunder, dass die plötzlich nen Schock kriegen.

    • Da fehlen viele Information, sicherlich. Mein Beitrag ist da auch bewusst subjektiv gehalten.
      Allerdings darf man nicht vergessen, dass das abrupte Kündigen ein neuer Trend ist – während sich die angesprochenen Variablen wie die Behandlung am Arbeitsplatz oder die “Bildung” an den Unis kaum geändert hat. Es muss also an etwas anderem liegen. Und nein, man kann nicht alles den Eltern zuschieben (sicher gibt es auch solche Fälle, aber das allein ist es nicht).

      • Das war auch nicht als Kritik an dir gedacht, sondern mir fehlen wirklich Informationen, weil ich momentan keine Zeit habe, mich selbst zu informieren. Entschuldige.
        Es ist schwierig, Ursachen zu finden, aber ich könnte mir vorstellen, dass es halt manchmal Zeiträume gibt, in denen es plötzlich bei einer großen Masse von Leuten “klick” macht und althergebrachte Systeme implodieren. Wir haben es ja bei MeToo auch gesehen, dass es eigentlich keinen besonderen Anstoß gab und nur gerade jemand etwas losgetreten hat, dem dann andere gefolgt sind. (Was ich auch sehr befürworte.) Sowas geschieht manchmal ganz plötzlich, ohne dass man genau weiß wieso ausgerechnet dann. Wobei das hier nicht unbedingt nach organisiertem Kündigen aussieht – seltsame Sache! (Wer weiß, vielleicht gibt es am Ende doch eine heimliche Gruppe bei LINE, die Leute angestiftet hat? :D)

        • Sehr schlechter vergleich. Während die Arbeitsverhältnisse in Japan oft wirklich sehr schlecht sind, ist metoo nur eine Scheindebatte die hauptsächlich von Frauen ausgenutzt wird um Aufmerksamkeit zu bekommen indem eine Hexenjagd gegen einen x-beliebigen Mann gestartet wird der meist komplett unschuldig ist. Sowas brauchen wir in Japan ganz sicher nicht.

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