Blog46 Jahre versteckt - der japanische Untergrund

46 Jahre versteckt – der japanische Untergrund

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Fahndungsplakat Masaaki Ōsaka
Fahndungsplakat Masaaki Ōsaka
Am 18. Mai 2017 machte die Polizei von Hiroshima Hausdurchsuchungen bei mutmaßlichen Mitgliedern der extremistischen Gruppe 中核派 chūkakuha („Kernzelle“). Der eigentliche Name der Gruppe lautet 革命的共産主義者同盟全国委員会 kakumeiteki kyōsanshugisha dōmei zenkoku iinkai (Nationales Komitee der revolutionären kommunistischen Liga) und wird aus verständlichen Gründen gern abgekürzt. Das Programm der Gruppierung findet sich sogar auf Englisch im WWW¹.
Die 1957 gegründete Gruppe vertritt Marxismus in seiner Reinform und brandmarkte somit auch den Stalinismus oder das nordkoreanische Modell als eine Regierungsform, die ebenfalls nicht im Interesse der Arbeiterklasse handelt. Man organisierte Streiks und verlegte sich später auf Anschläge, einige davon tödlich. Der letzte Anschlag fand 2001 statt – weshalb die Meldung der Hausdurchsuchung recht überraschend kam.
Während der Durchsuchung versuchte ein älterer Mann zu fliehen, doch er kam nicht weit: Die Beamten nahmen ihn wegen des Verdachts der Behinderung der Staatsgewalt fest. Später erhärtete sich ein Verdacht: Der Festgenommene könnte womöglich der seit 46 (!) Jahren gesuchte 大坂正明 Masaaki Ōsaka sein. Jener wurde seit 1971 wegen der 渋谷暴動事件 Shibuya Bōdō Jiken – Shibuya-Unruhen gesucht. Damals demonstrierten vornehmlich Studente und Mitglieder der Kernzelle gegen das Abkommen über die Rückgabe von Okinawa mit der USA. Eine Polizeiwache wurde angegriffen, mehrere Polizisten schwer verletzt – und ein Polizist wurde erst mit Stahlstangen niedergeschlagen und danach angezündet. Er verstarb am nächsten Tag an seinen Verletzungen. Ōsaka galt als Haupttäter, konnte aber im Gegensatz zu 6 Mitangeklagten fliehen. Bis jetzt.
Da der Angeklagte sich nicht äußerte, wurde letztendlich eine DNA-Untersuchung veranlaßt, und so wurde in dieser Woche bekannt, dass es sich tatsächlich um den gesuchten Ōsaka handelt.
Der Fall erinnert etwas an den Lindsay-Fall vor 8 Jahren: Damals schaffte es der Mörder der britischen Englischlehrerin Lindsay auch, sich knapp 3 Jahre lang im Land zu verstecken – und er reiste sogar durch die Gegend. Beide zählen zum 蒸発 jōhatsu – „Verdunsten“-Phänomen, bei der Japaner, in vielen Fällen sind es hochverschuldete Ehepartner, einfach so verschwinden. Im Untergrund.
Zwei französische Autorinnen haben zu diesem Thema etwas recherchiert (und fotografiert) und dazu ein Buch verfasst – The Vanished: The „Evaporated People“ of Japan in Stories and Photographs – erhältlich auf Französisch und Englisch, wie es scheint. Ihren Recherchen zufolge entscheiden sich alljährlich rund 100’000 Japaner, „abzutauchen“. Sie sind einfach nicht mehr auffindbar, schlagen sich mit Gelegenheitsarbeiten herum und wohnen in Absteigen, in denen man sich nicht registrieren braucht. Sie leben quasi außerhalb der Matrix, und die Familienangehörigen wissen davon nichts.
Ob das Buch gut ist oder nicht, weiss ich (noch) nicht, aber ich werde es mir sicher demnächst mal durchlesen, denn dieser Aspekt der japanischen Gesellschaft ist sehr interessant – und kaum durchleuchtet.
¹ Siehe hier

tabibito
tabibitohttps://japan-almanach.de
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

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