YouTube & TikTok sind nach wie vor das große Ding in Japan – 4 Jahre in Folge, von 2020 bis 2023, war “YouTuber” der Berufswunsch Nummer eins unter japanischen Grundschülern – so zumindest das Ergebnis einer alljährlich laufenden Umfrage von Benesse, einem japanischen Bildungsunternehmen1. Für die Kinder scheint dies wirklich der Traum zu sein – die Videos sehen nach Spaß aus, und wenn man damit auch noch viel Geld verdienen kann, so ist das doch schön, oder?
Sicher, es gibt zahlreiche Youtuber, die in der Tat viel Geld verdienen – und dabei auch noch eloquent sind. Hikakin2 zum Beispiel – obwohl dieser seit rund 9 Jahren nur auf Japanisch Inhalte erstellt, hat er rund 12 Millionen Follower, und das ist schon beachtlich, denn das sind immerhin 10% der Bevölkerung Japans. Doch leider stellen zahlreiche Youtuber auch in Japan sehr viel Blödsinn an – für 収益 (Einnahmen) und 知名度 (Bekanntheitsgrad). Manchmal reicht noch nicht einmal das als Motiv – manche machen den Blödsinn nur aus Geikel, wie zum Beispiel der Fall des Jungen, der sich dabei filmte, wie er in Sushi-Drehrestaurants Sachen anleckte und sonstigen Unfug anstellt.
Es geht noch extremer — seit etlichen Tagen geistert der nun Ex-Youtuber 煉獄コロアキ (“Fegefeuer-Koroaki”) durch die Nachrichten. Der 40-jährige hat sich auf das Genre 私人逮捕 spezialisiert – auf Deutsch gibt es dafür den Begriff “Jedermann-Gesetz”, das es in ähnlicher Form auch in Deutschland gibt: § 127 Abs. 1 S. 1 der Strafprozeßordnung3 besagt:
In Japan wird das rechtlich ähnlich geregelt – auch hier erlaubt das japanische Pendant der Strafprozessordnung (刑事訴訟法 die Festnahme durch Privatpersonen. In Japan regeln dies §§212 – 2174. Kurz umrissen darf jedermann jeden festnehmen, wenn der oder die Beschuldigte auf frischer Tat – oder kurz danach – ertappt wurde. Und das darf man, und hier wird es etwas kritisch, auch bei kleineren Vergehen machen – zum Beispiel bei Beleidigungen. Die einzige Voraussetzung für eine Jedermann-Festnahme ist dann, das der Wohnort des Beschuldigten nicht bekannt ist und Fluchtgefahr droht. Konkret bedeutet das also, das man jemanden in der Kneipe einfach so festsetzen kann, wenn der oder diejenige gerade im Suff jemanden als dumm bezeichnet hat.
Besagter Fegefeuer-Koroaki schien jedoch willkürlich Leute beschuldigt zu haben – und nahm diese dann unter vorgeschobenen Gründen und vor laufender Kamera (und unter Anwendung physischer Gewalt) fest. So beschuldigte er ein paar Frauen des unerlaubten Weiterverkaufs von Eintrittskarten und einen anderen Mann des Besitzes von Betäubungsmitteln. Ohne auf eine Klärung der Sachverhalte zu warten – natürlich muss die festgesetzte Person auch nach japanischem Recht unverzüglich den Behörden überstellt werden – veröffentlichte er dann die Videos auf Youtube. Völlig berechtigt wurde der selbsternannte Blockwart nun auch selbst von der Polizei festgenommen – zuerst wegen des Verdachts der 名誉毀損 (Ehrverletzung), und sofort nach vorläufiger Freilassung aus der Untersuchungshaft wegen des Verdachts der unerlaubten Festnahme bzw. Freiheitsberaubung. Zum Glück haben die Ermittler ja genügend Videobeweise, die den Mann auf frischer Tat zeigen.
Zeitgenossen wie Fegefeuer-Koroaki kann man eigentlich nur wünschen, selbst im Purgatorium zu landen. Unter dem Vorwand der Gerechtigkeit einfach Leute festzusetzen, diese dabei auch noch zu filmen, um damit Geld zu verdienen, ist einfach nur dreist. Ein Blog5 fragt da berechtigterweise, was eigentlich passiert, wenn man das Jedermann-Recht auf Leute wie Koroaki anwendet.
Fakt ist, dass die Jagd nach Klicks in Japan zur Zeit viele seltsame Blüten treibt — sogenannte “Pranks” (also Amateurversionen der Versteckten Kamera) gibt es auch immer mehr, weshalb man, gerade im Zentrum der Großstädte, ein bisschen vorsichtig sein muss. Da gilt dann der Leitsatz “Wenn etwas komisch erscheint, ist sehr wahrscheinlich wirklich irgendwas im Busch. Mit wachsender Wahrscheinlichkeit ist das im Busch dann der Handlanger eines Youtubers”.