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Motiv des Shinzo Abe-Attentäters zerrt Japans Problem mit den Religionen ans Licht

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Das Attentat auf Shinzo Abe, dem langjährigen Ex-Premierminister, hat jeden geschockt – ob in Japan oder außerhalb. Wie konnte so etwas nur in Japan passieren, und was hat den Täter dazu getrieben? Noch bevor Hintergründe klar wurden, war man sich einig: Was es auch war, dieses Attentat ist durch nichts zu rechtfertigen. Oder?

Der Täter, Tetsuya Yamagami, ein 41-jähriger ehemaliger Armeeangehöriger, wohnte nur wenige Kilometer vom Tatort entfernt und liess sich sofort widerstandslos festnehmen. Er wirkte vor und nach der Tat sehr gefasst, und wie man schnell herausfand, hatte er selbige von langer Hand geplant. Er baute die Waffe, die man am besten als abgesägte, doppelläufige Schrotflinte bezeichnen kann, selbst – und er baute nicht nur ein, sondern gleich mehrere Exemplare. Die testete er auch an verschiedenen Orten – und ganz offensichtlich war die Waffe effektiv genug, um mit nur einem Schuß (der erste ging daneben) einen Menschen zu töten.

In den ersten Tagen nach den Attentat war der geständige Täter durchaus redselig und gab an, nicht Groll gegen Abes Politik, sondern gegen die Person Abe gehegt zu haben. Grund dafür war des Täters Annahme, dass der Ex-Premierminister einer „gewissen religiösen Gruppierung anzuhängen scheint“. Es dauerte nur 2 bis 3 Tage, bis öffentlich wurde, um welche Gruppierung es sich handelt: Nämlich um die Vereinigungskirche, auch bekannt als Moon-Sekte, und seit 2015 unter dem Namen „Familienföderation für Weltfrieden und Vereinigung“ agierend.

Welches Problem hatte der Täter nun mit besagter Gruppierung? Der Hintergrund war tragisch: Die Mutter des Täters hatte sich 1998 der Sekte angeschlossen und dadurch all ihr Hab und Gut verloren – wie man später herausfand, über 100 Millionen Yen, also rund 800,000 Euro. Das führte dazu, dass die Familie offiziell bankrott ging und die drei Kinder deshalb nicht an einer Universität studieren konnten. Der ältere Bruder des Attentäters nahm sich daraufhin das Leben – und der Täter sah keinen anderen Ausweg, als ein paar Jahre in den Selbstverteidigungsstreitkräften zu dienen. Zur Zeit des Attentats war er arbeitslos.

Die seit langem auch in Japan aktive Sekte sah sich durch die Veröffentlichung gezwungen, eine Pressekonferenz abzuhalten, in der der Leiter der Tokyo-Niederlassung bestätigte, dass die Mutter Mitglied war, und dass der Sekte bekannt war, dass sie bankrott ging. Dementiert wurde hingegen die Verbindung Abes zur Religionsgemeinschaft. Auf Anfragen, wie denn jemand wegen der Mitgliedschaft bankrott gehen könnte, kamen eher schwammige Antworten – die Vereinigung habe sich seitdem geändert, man habe eine eigene Compliance-Abteilung und ansonsten könne man keine konkreten Auskünfte geben.

Umgehend beschlossen ein paar Anwälte, die ehemalige Mitglieder der Sekte vertraten beziehungsweise noch vertreten, ebenfalls eine Pressekonferenz abzuhalten. Dort versicherten sie, dass sich die Sekte keineswegs geändert habe. Noch immer werden Mitglieder dazu getrieben, extrem teure Namensstempel oder besondere Bibeln zu verkaufen. Dabei hielt ein Anwalt eine schwarze, von der Sekte gedruckte Bibel hoch und nannte dazu den Preis: 30 Millionen Yen, also fast 250,000 Euro. Diese Bibel muss dann nicht etwa nur ein Mal gekauft werden, sondern in vielen Fällen gleich mehrfach.

Doch wie kam der Attentäter auf die Idee, dass Shinzō Abe eine Verbindung zur Sekte hatte? Genau hier wird es brenzlig, denn der Ex-Premierminister lieferte in der Tat eine Grußadresse an die Universal Peace Federation (UPF), welche mit der Vereinigungskirche fest verbunden ist (und von Moon, dem Sektengründer, gegründet wurde). Dies geschah im Rahmen des von der UPF organisierten „Thinktank 2022 – Rally of Hope“. Die Rede wurde auf dem sekteneigenen Sender „Peacelink TV“ übertragen1 und dauert über 5 Minuten.

Für den Täter muss das Video blanker Hohn gewesen sein: Die Mutter hat alles verloren, der Bruder hat Selbstmord begangen, und er selbst sah keine Perspektive mehr. Und dann das: Der Ex-Premierminister schmiert der Sekte Honig um das Maul – Beteuerungen, dass Abe weder Mitglied war noch für die Sekte als Berater arbeitete, helfen da nicht viel. Und dass Abe nicht wusste, dass hinter der UPF in Wahrheit die Moon-Sekte steckt, ist relativ unwahrscheinlich und wenn doch, dann grob fahrlässig.

Die Moon-Sekte ist weltweit aktiv – auch in Deutschland. Bereits 1983 entschied dabei der Bundesgerichtshof, dass es erlaubt sei, folgendes zu behaupten2:

  • die Vereinigungskirche sei eine kriminelle Vereinigung
  • sie proklamiere ein faschistisches System
  • mehrere junge Leute sind durch die Vereinigungskirche bis zum Selbstmord getrieben worden
  • die Vereinigungskirche setzt Menschen einem Psychoterror aus

Japan hat einen sehr relaxten Umgang mit Religionen – dies fusst darauf, dass die Amerikaner nach dem 2. Weltkrieg forderten, dass (nahezu) unbegrenzte Religionsfreiheit in der Verfassung garantiert werden muss. Das war eine Lehre daraus, was passiert, wenn man eine Religion – in Japans Fall der Shintōismus – zur Staatsdoktrin macht. Doch der Giftgasanschlag auf die U-Bahn von Tokyo durch die Aum-Sekte zeigte bereits, dass absolute Religionsfreiheit durchaus gefährlich sein kann. Und aus dem Attentat auf Shinzō Abe, das natürlich nicht durch die Hintergründe entschuldigt werden kann, lernen japanische Politiker hoffentlich, dass es besser ist, sich zwei Mal zu überlegen, wen man öffentlich unterstützt und wen besser nicht.

 

  1. siehe hier
  2. siehe hier
tabibito
tabibitohttps://japan-almanach.de
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

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