Neulich verschlug es mich bei einer kleinen Tour durch Westjapan in das kleine Örtchen Tsuwano – der Ort liegt mitten in den Bergen im Westen von Shimane, unweit der Präfekturgrenze von Yamaguchi. Hier leben gerade mal rund 6’000 Menschen und im Prinzip sagen sich hier Fuchs und Hase gute Nacht, aber da der alte Ortskern noch sehr gut erhalten ist, kommen hier verhältnismäßig viele Besucher vorbei. Doch was fährt da plötzlich durch die Gassen des kleinen Ortes? Ein kleiner Bus mit dem ostdeutschen Ampelmann drauf! Nanu? Es dauerte ein paar Sekunden, bis es bei mir Klick machte: Das muss mit 森鴎外 zu tun haben! Denn der berühmte japanische Schriftsteller verbrachte einige Jahre in Deutschland – und zwar hauptsächlich in Berlin-Mitte, Leipzig, Dresden, München und Karlsruhe. Dort studierte er von 1884 bis 1888 Medizin. In einem seiner bekanntesten Romane, dem Buch 舞姫, beschreibt er ziemlich ausführlich die Gegend des heutigen Berlin-Mitte zur Zeit Preußens, und so kam es, dass Berlin-Mitte und Tsuwano im Jahr 1995 eine Städtepartnerschaft schlossen. Das Buch ist auch auf Deutsch erhältlich – unter dem Titel “Das Ballettmädchen” (Sponsored Link!).
Mori Ōgai entwickelte sich zu einem bedeutenden Dichter der japanischen Moderne – doch er verfolgte gleichzeitig seine Karriere als Stabsarzt. So wurde er schließlich zum Generaloberstabsarzt des Heeres – das ist die höchste Position im Medizinkorps. Hier machte er jedoch einen gravierenden Fehler: Während Admiraloberstabsarzt der Kaiserlichen Marine erkannte, dass die Beriberi-Krankheit, die vor allem in den japanischen Kriegen rund um das Jahr 1900 ausbrach, auf mangelnde Ernährung zurückgeht und ihr damit relativ einfach vorgebeugt beziehungsweise jene schnell geheilt werden kann, lehnte Mori diese neuen Erkenntnisse ab und ging weiterhin davon aus, dass es sich um eine Infektionskrankheit handelt. Die Folge: Während es bei der Marine keine auf Beriberi zurückgehende Todesfälle gab, starben im Heer mehr als 20’000 Soldaten an der Krankheit.
Darüber findet man in Mori Ōgais Werken nichts – auch das Mori Ōgai-Forschungsinstitut in Tsuwano schweigt zu dem Thema, denn die Angelegenheit ist schwierig: Ein für die japanische Literaturgeschichte so bedeutsamer, feinfühliger Dichter ist gleichzeitig verantwortlich für den Tod zehntausender Menschen.
Wer sich jedoch ein bisschen für die japanische Geschichte interessiert – vor allem für die Zeit, in der Japan durch eine atemberaubend schnelle Phase der Modernisierung ging – dem seien die Werke von Mori Ōgai, und viele von ihnen wurden ins Deutsche übersetzt – ans Herz gelegt. Als ich “Maihime” vor langer Zeit im Original las, fand ich das hochinteressant, aber auch etwas amüsant, denn es war irgendwie seltsam, die ganzen historischen Stätten in Berlin in Katakana geschrieben zu sehen.
Filmtipp: Maihime wurde 1989 von Masahiro Shinoda als “Die Tänzerin” verfilmt.