Die vergangene Woche verbrachte ich auf einer Handvoll kleiner Pazifikinseln rund 1000 Kilometer südlich von Tokyo — beziehungsweise südlich des Zentrums von Tokyo, um genau zu sehen, denn administrativ gehören die Ogasawara-Inseln nämlich trotz der großen Entfernung zur Präfektur Tokyo.
Wie jeder andere Ort in Japan auch haben die Inseln ihre eigenen kulinarischen Besonderheiten zu bieten, doch hier wird es besonders interessant, denn nahezu jedes Restaurant bietet Gerichte mit Schildkrötenfleisch an. Es geht um chelonia mydas, die Grüne Meeresschildkröte, die quasi fast überall in tropischen und subtropischen (und manchmal auch darüber hinaus) Meeren zu Hause ist. Die imposanten Tiere galten vom 18. bis zum 19. Jahrhundert als idealer Reiseproviant und kulinarische Delikatesse, was der Spezies fast die Existenz kostete. So einigte man sich bereits vor über 125 Jahren auf einen gewissen Grad von Artenschutz, und Feinschmecker mussten von nun an mit der berühmten Mock Turtle Soup vorlieb nehmen.
Rund um die Ogasawara-Inseln gibt es reichlich viele Meeresschildkröten — viele kommen vor allem in den Monaten Mai bis Juli zur Eiablage hierher, weshalb man an fast allen Stränden, egal ob in der Ortsmitte oder abgelegen, die markanten Spuren der bis über 150 kg schweren Tiere finden kann. Auch hier wurden die Schildkröten früher massiv gejagt — bis über 1500 Tiere pro Jahr fanden hier einst ihr Ende.
Doch während nahezu überall auf der Welt ein kompletter Fangstopp herrscht (was nicht heisst, das noch immer Tiere gewildert werden oder als Beifang in Schleppnetzen verenden), wurde der Fang auf den Ogasawara-Inseln nie vollends eingestellt.
Das zeigt ein Blick auf die Speisekarten der örtlichen Restaurants: Viele preisen die Ankunft frischen Schildkrötenfleisches an, welches dann als 亀刺し (Schildkröten-Sashimi, also dünne Streifen rohen Fleisches), 煮込み (Eintopf), テッパポン酢 (Fleisch der Flossen mit leicht fermentiertem Zitrusessig) und anderen Variationen verkauft wird.
Aber sind denn die Tiere nicht artengeschützt? Nun, da scheint Uneinigkeit zu herrschen. International gesehen gelten sie als gefährdet, allerdings nicht als hochgefährdet oder vom Aussterben bedroht. Und ein Meeresbiologe auf der Insel versicherte mir, dass der Bestand in den vergangenen Jahren sogar stark zugenommen habe – möglicherweise deshalb, weil einer der größten natürlichen Feinde der Schildkröten, der Hai, stark im Bestand abgenommen hat.
Deshalb hat man sich in Japan, man kennt das von der Walfischerei, wieder einmal einen eigenen Weg einfallen lassen: Um das kulturelle Erbe der Inseln zu wahren, dürfen Meeresschildkröten offiziell wieder seit 1994 gejagt werden, aber mit einigen Einschränkungen:
- Nur Fischer mit einer speziellen Lizenz dürfen sie fangen
- Die Tiere müssen erwachsen sein (d.h. mehr als 75 cm lang)
- Von Juni-Juli, zur Spitzenzeit der Eiablage, herrscht ein Fangverbot
- Maximal 135 Tiere dürfen erlegt werden
Diese Regeln werden auch im Zentrum für Meeresprodukte in Chichijima ausgestellt – mit einem interessanten Verweis bezüglich der Fangquote:
— “(Die Quote) ist nicht schriftlich festgelegt, sondern erfolgte durch mündliche Anweisung vom Fischereiministerium”.
Das mutet seltsam an, denn das Thema ist aufgrund der internationalen Artenschutzbestimmungen etwas heikel. Doch warum gibt es zum wichtigen Punkt einer Fangquote kein zitierbares Dokument? Und warum wird hier eigens auf das Fehlen eines solchen Dokuments hingewiesen? Und kann überhaupt noch nachvollzogen werden, wer da mit wem eine mündliche Unterredung hatte? Schließlich gilt die Regel seit 1994, also seit 30 Jahren. Und warum steht hier nirgendwo, dass sich die Fangquote auf ein Jahr bezieht?
Es sollte an der Stelle angemerkt werden, dass hier (und auch anderswo in Japan) sehr viel für die Erhaltung der Meeresschildkröten getan wird. Auf Chichijima gibt es eigens eine Aufzuchtstation, und die örtlichen Behörden tun sehr viel, damit die Eiablageplätze erhalten bleiben — und die geschlüpften Meeresschildkröten ihr Ziel erreichen. Wenn die Bestände rund um die Inseln wirklich so stabil sind, wie gesagt wird, ist gegen eine lokale, sehr begrenzte Entnahme nicht allzu viel einzuwenden — letztendlich macht die Menge den Unterschied, nicht das ob oder wie.
Möglicherweise verschwindet aber die Spezialität auch aus den Restaurants dieser Inseln (genauer gesagt der Insel Chichijima — die anderen Inseln sind bis auf eine Ausnahme unbewohnt). Denn es gibt nur noch einen einzigen Fischer, der weiß, wie die Schildkröten fachgerecht verarbeitet werden, und dieser Fischer ist wohl schon hochbetagt. Einen Nachfolger gibt es wohl nicht.