Wer auch nur ein bisschen Japanisch lernt, stößt beim Lernen der Uhrzeiten schnell auf eine Kuriosität: Die Wörter 午前 (“Vormittag”) und 午後 (“Nachmittag”). Das erste “go” steht dabei für “Pferd”. Vormittag ist also “vor dem Pferd” und Nachmittag hingegen die Zeit nach dem “Pferd”. Wie jetzt? Und dann wäre da noch das seltsame Wort おやつ – ein kleiner Snack am Nachmittag, wörtlich übersetzt jedoch “der Achte”. Wie kommt es zu solchen Wörtern?
Die Gründe liegen in der alten japanischen Art, Tage einzuteilen. Alt bedeutet bis zum Ende der Edo-Zeit, also bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts.
Dass die 干支 genannten Tierkreiszeichen in China und Japan bei den Jahren eine wichtige Rolle spielen ist ja auch außerhalb des Fernen Ostens sehr bekannt, doch weniger bekannt ist, dass auch die Tage nach den Tierkreiszeichen eingeteilt wurden. Da es sich um 12 Tierkreiszeichen handelt, wurde ein Tag dementsprechend in 12 Einheiten unterteilt – quasi in 2-Stunden-Blöcke. Und hier beginnt die Verwirrung, denn die Blöcke beginnen nicht um Mitternacht, 2 Uhr und so weiter, sondern sie beginnen jeweils zu den ungeraden Stunden. Besagtes Pferd ist also die Zeit zwischen 11 Uhr vormittags und 1 Uhr nachmittags.
Diese Einheiten wurden 刻 genannt (das Homonym 時 bedeutet “Zeit”). Eine Einheit wurde so 一刻 (also 2 Stunden) genannt – dieses Wort wird heute in der Regel “Ikkoku” gelesen, und es findet sich heuer in der Redewendung 一刻も早く wieder – die japanische Version des “schnellstmöglich / ASAP”.
Zur Nennung der Uhrzeit gab es konkret zwei verschiedene Ausdrucksweisen. Einerseits benutzte man tatsächlich die Namen der Tierkreiszeichen, mit dem Zusatz (の)刻 (“-no-koku”). Mitternacht war dementsprechend 子(の)刻 (ne-no-koku) und Mittag 午(の)刻 (uma-no-koku), was sich auch heute noch im Begriff 正午, “Punkt 12 Uhr”, wörtlich jedoch “das wahre Pferd”, erhalten hat. Üblicher da einfacher war jedoch die Benutzung der Zahlen von 9 bis 4: Die 2-Stundenblöcke wurden von 9 bis 4 herunternummeriert. 9 kennzeichnet hier jeweils Mitternacht und Mittag; der 6. Block hingegen die Zeit rund um den Sonnenauf- und Untergang, unterteilt in 明け六つ (6. Stunde zum Sonnenaufgang) und 暮れ六つ, die 6. Stunde zum Sonnenuntergang.
Die in der Illustration angegeben Lesungen der Tiernamen sind übrigens die vollen Namen – bei den 12 Tierkreiszeichen lautet die Lesung bei einigen Zeichen etwas anders, nämlich “ne” statt “nezumi”, “u” statt “usagi”, “mi” statt “hebi” und “i” statt “inoshishi”.
Hier wird es dann auch wieder verwirrend, denn 丑刻 und 未刻 werden beide “Yatsu” gesprochen – können aber 2 Uhr nachts (丑刻) oder 14 Uhr (未刻) bedeuten. In der Schriftsprache ist also klar, was gemeint ist – im Gesprochenen hingegen nicht. Das war zu jener Zeit sicherlich auch kein Problem, denn dass sich Menschen zu nächtlicher Stunde verabredeten kam sicherlich eher selten vor.
Oben erwähnter Nachmittagssnack “oyatsu”, das “o-” ist lediglich ein Höflichkeitspräfix, kennzeichnet also das, was wir heute als 14 Uhr bezeichnen. Die Übersetzung “12 Uhr” und “2 Uhr” usw. ist dabei jedoch nicht ganz akkurat. Wie zum Beispiel auch im Preußen des 19. Jahrhunderts gab es natürlich keine japanische Standardzeit als solche (einige preußische Städte waren Berlin ein paar Minuten voraus, andere hinterher, was bei den Fahrplänen für Eisenbahnen für Verwirrung sorgte). Grob gesagt war Mittag (also Punkt Mittag) die Zeit, zu der die Sonne in Edo Richtung Süden zeigte. Mittag war also je nach Jahreszeit unterschiedlich – das gleiche gilt für 6 Uhr morgens (=Sonnenaufgang) und 6 Uhr abends (=Sonnenuntergang). Das wiederum bedeutet, dass die Definition von 1 toki = 2 Stunden nicht ganz korrekt ist. Im Sommer waren diese Einheiten tagsüber etwas länger als Stunden und nachts etwas kürzer, im Winter hingegen entsprechend andersrum.
Eine japanische Standardzeit wurde übrigens erst 1886 festgelegt – sie richtet sich nach dem 135. östlichen Breitengrades, nahe der Stadt Akashi, denn hier beträgt der errechnete Zeitvorsprung zum Null-Meridian in Greenwich bei London exakt 9 Stunden.
Schriftzeichen | Tierkreis | Schriftzeichen | Tierkreis | Blockzahl | Lesung | |
---|---|---|---|---|---|---|
Mitternacht / Mittag | 子刻 | Ratte | 午刻 | Pferd | 9 | Kokonotsu |
1 Uhr | 子刻半 | 午刻 | Kokonotsuhan | |||
2 Uhr | 丑刻 | Ochse | 未刻 | Schaf | 8 | Yatsu |
3 Uhr | 丑刻半 | 未刻半 | Yatsuhan | |||
4 Uhr | 寅刻 | Tiger | 申刻 | Affe | 7 | Nanatsu |
5 Uhr | 寅刻半 | 申刻半 | Nanatsuhan | |||
6 Uhr | 卯刻 | Hase | 酉刻 | Hahn | 6 | Mutsu |
7 Uhr | 卯刻半 | 酉刻半 | Mutsuhan | |||
8 Uhr | 辰刻 | Drache | 戌刻 | Hund | 5 | Itsutsu |
9 Uhr | 辰刻半 | 戌刻半 | Itsutsuhan | |||
10 Uhr | 巳刻 | Schlange | 亥刻 | Wildschwein | 4 | Yotsu |
11 Uhr | 巳刻半 | 亥刻半 | Yotsuhan |
Die alten Tageszeiten sind heute niemandem mehr geläufig – sie werden auch nicht an japanischen Schulen oder Universitäten gelehrt. Wer jedoch auf Quellen aus der Edo-Zeit angewiesen ist, kommt natürlich nicht um das Verständnis der alten Zählweise herum. Das betrifft Historiker genauso wie Hobbyheimatkundler oder auch Geografen und Geologen. Konkret sieht das zum Beispiel so aus (die folgenden Auszüge stammen aus historischen Aufzeichnungen zum Ausbruch des Asamayama Ende des 18. Jahrhunderts):
Hier wird beschrieben, dass am 7. Juli, gegen 8 Uhr abends (戌刻), glühende Steine wie Schnee zu fallen begannen.
Hier wird beschrieben, dass am 8. gegen 10 Uhr morgens alte Häuser vom Vulkanschutt regelrecht zermalmt wurden.
Wer sich für die Details interessiert, dem sei das Buch „Japanische Zeiten“ von Florian Coulmas ans Herz gelegt:
https://de.wikipedia.org/wiki/Spezial:ISBN-Suche/3463403927
Vielen Dank – das ist wirklich ein hochinteressantes Buch und sehr passend zum Thema.
Ist ja echt mal interessant. Hab mich schon gefragt, wo denn gogo und gozen herkommen :D
Noch was organisatorisches:
Ich glaube dir ist auf der Seite das Rollfeld “Archiv” kaputtgegangen. Man bekommt dort nach der Auswahl eines Monats einen 404 Fehler angezeigt. Er ergänzt in der URL immer /Japan/, was wohl falsch zu sein scheint.
Vielen Dank für den wertvollen Hinweis! Das sollte jetzt behoben sein.