BlogKontext, Baby, Kontext...

Kontext, Baby, Kontext…

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In letzter Zeit erhalte ich wieder vermehrt Emails und Nachrichten mit Links zu besorgniserregenden Nachrichten über den Zustand der havarierten Nuklearmeiler in Fukushima, nicht selten mit der Annotation, dass die Situation dort außer Kontrolle zu geraten scheint (ergo: Ihr werdet alle sterben!). Eine der Meldungen findet sich bei Heise zum Beispiel. Demzufolge wurden bisher nie gemessene Werte von rund 650 Sievert/Stunde festgestellt. “Rund” deshalb, weil die Strahlung so hoch ist, daß man den Wert nur extrapolieren kann – mit einer hohen Fehlerquote. Diese Strahlung hält kein Mensch mehr als ein paar Sekunden aus.
Soweit, so gut. Den Kontext jedoch scheinen viele Nachrichtenseiten (und demzufolge auch etliche besorgte Leser) zu übersehen: Man stellte diese extrem hohen Werte erstmals deshalb fest, weil man nun erstmals direkt dort gemessen hat, wo sich einst die Brennstäbe befanden. Bilder des Roboters zeigen auch, dass es im innersten Druckbehälter ein passables Loch gibt, durch die sich das nukleare Material scheinbar gefressen hat. Diese unglaublich hohen Messwerte sind deshalb nichts Neues – die Intensität der Strahlung dürfte seit 2011 die Gleiche sein, nur dass man eben erst jetzt bis dorthin vorgedrungen ist. Weitere Untertitel wie “selbst Roboter halten diese Strahlung keine zwei Stunden aus” sorgen natürlich für zusätzliche Gänsehaut (welcher Laie kann schon ermessen, was das wirklich bedeutet).
Grund zur Panik also? Ja und nein. Beziehungsweise: Nicht mehr als vorher. Zwar weigert sich TEPCO noch immer, von einer Kernschmelze zu sprechen, aber das ist nur noch Wortklauberei, denn das Problem bleibt bestehen: Eine hochgradig verstrahlte Reaktorruine steht direkt am Pazifik, mit geschmolzenen Brennstäben in löchrigen Reaktorbehältern, die so schnell nicht geborgen werden können. Was würde wohl bei einem erneuten, kräftigen Tsunami geschehen? Würden dann nicht Teile der Masse ins Meer herausgespült werden? Man mag es sich nicht ausmalen. Und dennoch: Bevor wieder davon die Rede ist, dass jetzt alles aus sei und sich die Lage dramatisch verschlechtert hat, sollte man sich des Kontexts klar werden. Und die Essenz des selbigen ist halt, dass die Werte nicht etwa gestiegen sind – sondern dass man erstmals ins Innerste des Reaktors vorgedrungen ist und dort bisher nie gemessene Werte festgestellt hat.

Ein anderer Fall für die Kontextpolizei: Als ich neulich für eine andere Internetseite einen Artikel über japanische Studienfächer und den späteren Bezug zum Berufsleben schrieb, erwähnte ich, dass vor allem Frauen ihre an den Universitäten studierten Fächer später kaum benutzen können, da für Frauen Karriere und Familie noch immer sehr schwer vereinbar sind. Zurück kam von der Redakteurin eine Grafik, die zeigt, dass der Anteil der 共働き tomobataraki (=beide arbeiten)-Paare in den vergangenen Jahren stark gestiegen ist, und schon vor ein paar Jahren den Anteil der Ehepaare, in denen nur der Mann arbeiten geht, überholt hat. Diese Grafik sollte widerlegen, dass die meisten Frauen ihr Studienfach später im Beruf nicht anwenden können. Leider wurde auch hier der Kontext völlig übersehen, denn die Grafik war 1) nicht auf Studienabgänger beschränkt, und 2) sagte sie überhaupt nichts darüber aus, in welchen Beschäftigungsverhältnissen die Frauen standen: Dort wird völlig übersehen, dass der Anteil der Doppelverdiener unter anderem deshalb so stark ansteigt, weil in mehr und mehr Fällen das Gehalt des Mannes nicht mehr ausreicht. Die Grafik zeigt auch nicht, dass viele Frauen, die heute arbeiten gehen, nicht etwa als “Studierte Spezialistin für englische und amerikanische Literatur” tätig sind, sondern im örtlichen Krimskramsladen Tünnef an Hausfrauen verkaufen, die nicht darauf angewiesen sind, arbeiten zu gehen (oder, auch das gibt es durchaus oft, die zwar arbeiten wollen, aber nicht können, weil sie keinen Kindergartenplatz bekommen – oder weil der Mann nicht will, dass die Frau arbeiten geht.
Ich bemühe mich auf meinem Blog seit nunmehr 11 Jahren, diese Zusammenhänge herauszuarbeiten. Ich hoffe, mit ein wenig Erfolg. Allerdings wird es auch immer Zusammenhänge geben, die ich selbst übersehe. Man kann nur hoffen, es sind nicht allzu viele.

tabibito
tabibitohttps://japan-almanach.de
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

10 Kommentare

      • Ihre Artikel geben mir oft fundierte Hintergrundinformationen ueber Japan-spezifische Themen, besonders politische Themen, welche ich ansonsten wohl nie erhalten haette. Ihr Schreibstil ist dabei wohltuend unaufgeregt zu lesen. Das im obigen Artikel angeschnittene Thema der Gleichberechtigung scheint mir derzeit in Japan auf dem Vormarsch und wird vermutlich noch Stoff fuer einige weitere Artikel lieferen.
        Nochmals vielen Dank fuer Ihre Muehe diesen Blog zu betreiben :-)

  1. Die Statistikkompetenz der meisten Leute bewegt sich leider irgendwo im Minusbereich. Wie auch Prozentrechnung.
    Ich hoffe nur, man kriegt das strahlende Zeug irgendwie in den Griff bevor es tatsächlich ausgespült wird.

  2. Traut keiner Statistik, die ihr nicht selbst gefälscht habt!!
    Spaß beiseite, in Japan arbeiten doch nicht mal die meisten Männer in dem, was sie studiert haben… Und mit solchen Statistiken dann behaupten zu wollen, dass die Gleichberechtigung der Frau weiterschreitet, ist lächerlich. Fühlte sich die Dame angegriffen von dir?

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