Es ist für mich beinahe eine Tradition, am 31. Oktober auf dem Heimweg kurz in Shibuya vorbeizuschauen, um zu sehen, wie dort Halloween gefeiert wird. Ausgelassen nämlich, mit vielen ausgefallenen Kostümen und einer im Großen und Ganzen friedlichen Atmosphäre.
In den vergangenen zwei Jahren fiel Halloween wegen Corona fast vollständig aus (fast deshalb, da es sich ja nicht um eine organisierte Veranstaltung handelt und zudem ja auch kein Lockdown bestand), so dass man davon ausgehen konnte, dass in Shibuya in diesem Jahr einiges los sein wird. Die Ausgangslage war in Seoul im Stadtviertel Itaewon, dem koreanischen Pendant zu Shibuya, ähnlich, doch dann kam es am vergangenen Wochenende, dem 29. Oktober 2022, zur Katastrophe. In eine nur rund 3 m breite Gasse strömten von gleich drei Seiten unglaubliche Menschenmassen. Wie man zwei Tage nach dem Unglück nun herausfand, befanden sich nahezu alle der 150 Todesopfer auf einem nur 18 Quadratmeter großen Abschnitt – dort drängelten sich unvorstellbare 300 Menschen auf engstem Raum.
Umgehend wurde natürlich in Japan die Frage gestellt, ob diese Art von Katastrophe auch hier denkbar ist. Immerhin nehmen bei der Halloween-Feier in Shibuya bis zu 1 Millionen Menschen pro Tag teil – die allermeisten davon in den Abendstunden. Und wie die letzte große Halloween-Feier vor Corona im Jahr 2019 bewies, gibt es durchaus auch ein Gewaltpotential in der Menschenmasse. Die Antwort war deshalb auch relativ einmütig: Ja, so etwas ist auch in Shibuya denkbar. Schließlich gibt es auch dort ein paar 3 m breite Gassen, eine davon gar mit Treppe. Es muss noch nicht einmal das Gequetsche und Gedränge sein – eine Massenpanik ist ebenfalls leicht vorstellbar und mit viel weniger Menschen möglich. Ich kenne Itaewon recht gut, und ich kenne Shibuya noch viel besser. In Itaewon geht es in der Tat viel enger zu, aber auch in Shibuya gibt es gefährliche, da sehr enge Ecken. Von daher kann ich mich der Meinung nur anschließen.
Hat es die Feiernden davon abgeschreckt, heute in Shibuya zu feiern? Nein. Es war extrem viel los auf den Straßen rund um die berühmte Scramble-Square-Kreuzung. Man konnte aber sofort erkennen, dass die Polizei massiv präsent war und ihr bestes gab, die Menschenmassen zu leiten. Ob das immer wirklich positiv ist, steht auf einem anderen Blatt – die ständigen “Weitergehen! Nicht stehenbleiben!”-Rufe und das Kanalisieren der Massen in engen, abgegrenzten Bereichen kann durchaus auch nach hinten losgehen. Den Trubel in Shibuya habe ich jedenfalls mit einem lachenden und einem weinenden Auge gesehen. Lachend, da die Jugend endlich mal wieder etwas die Sau rauslassen kann. Mit einem weinenden Auge, da die Bilder von der Katastrophe in Itaewon noch im Kopf sind. Selbst die Bilder von der Katastrophe bei der Love Parade in Duisburg sind noch im Kopf – so schnell wird man das nicht los (und man erinnert sich an Situationen, bei denen man selbst dabei war und wo Ähnliches ebenfalls hätte passieren können).