BlogAlltagsfreuden im Pendelverkehr

Alltagsfreuden im Pendelverkehr

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Es ist kurz nach 8 am Morgen. Der Wecker überzeugt mich irgendwie, aufzustehen. Heute steht ab 10 ein Meeting in Shibuya auf dem Plan. Normalerweise sieht das so aus: Ich verlasse gegen Dreiviertel Neun das Haus, fahre mit dem Fahrrad 4 km lang Berg und Tal bis zu meinem Bahnhof des Vertrauens. Die Strecke ist gewürzt mit 18-Grad-Steigungen und einer gut 1 km langen, ununterbrochenen Talfahrt. Man ist danach wach. Knapp 15 Minuten später bin ich am Bahnhof und steige in den Schnellzug. 20 Minuten später, also gegen halb Zehn, bin ich in Shibuya. So weit, so gut.

Professionelle Passagierquetscher bei der Arbeit
Professionelle Passagierquetscher bei der Arbeit
Ein Blick aus dem Fenster erklärt das Hintergrundrauschen: Es regnet. So ein Mist. Mein Fahrrad ist zwar sehr schnell, aber einer der Gründe dafür ist das Fehlen von Schutzblechen. Mit Anzug und jenem Fahrrad 4 km bis zum Bahnhof fahren ist nicht empfehlenswert. Ich will ja nicht wie ein nasser Pudel im Meeting sitzen. Deshalb Plan B, extra für Regentage: Ich verlasse kurz nach halb Neun das Haus und laufe eine Minute zur Bushaltestelle. Der Bus kommt natürlich 10 Minuten zu spät, aber kein Problem – komme ich eben erst 9:40 an. Der Bus fährt zum nächstgelegenen Bahnhof: Der ist nur 2 km entfernt, aber dort halten keine Schnellzüge. Es gibt aber ein paar Semi-Express-Züge. Jedenfalls, wenn der Bus pünktlich ist. Da er es aber nicht ist, bleibt nur das Warten auf den Bummelzug. Der fährt – ebenfalls mit etlichen Minuten Verspätung – endlich ein, ist natürlich rappelvoll und bleibt hier und da länger als üblich stehen. Gegen 9:40 – eigentlich wäre ich schon lange in Shibuya – bin ich endlich in Shimokitazawa. Ich wälze mit den Menschenmassen die Treppen und Rolltreppen hoch zur Keiō-Linie. Ein paar Schrecksekunden sind dabei: Die Rolltreppe spuckt immer mehr Menschen auf den Bahnsteig aus, doch jener ist schon hoffnungsvoll überfüllt und die Menschen kommen nicht schnell genug von der Rolltreppe weg. Gleichzeitig fahren links und rechts hupenderweise Züge ein.
Der Keiō-Linie scheint auch unwohl zu sein: Die Herrscher der Bahnhofssprechanlage entschuldigen sich pausenlos mit überschlagender Stimme. Ein Zug nach Shibuya fährt ein. Die Gesichter der Passagiere sind so stark an die Scheiben gedrückt, das sie größer als normaler Gesichter erscheinen. Die Türen gehen unerbittlich auf. Nach ein paar Sekunden, kurz, bevor die Türen wieder schliessen, fällt einem Passagier aus exakt der Waggonmitte auf, dass er ja hier aussteigen möchte. Plötzlich quellen dutzende gestresste, fahle Passagiere aus dem Waggon und wogen sofort wieder zurück, nachdem der Schläfer endlich die Bahn verlassen hat. Endlich! 3.4 Kubikzentimeter mehr pro Passagier! Wenn einer den Waggon verlässt, müsste ja theoretisch mindestens einer neu zusteigen können. Ist aber nicht. Selbst die erprobte Kampftechnik – Mit dem Rücken zum Waggon hin vor die Tür treten, mit den Händen in den inneren Türrahmen festkrallen und dann rückwärts mit allem verfügbaren Druck reinquetschen – hilft nicht. Es passt keiner mehr rein. Zug fährt ab. Nächster Zug kommt: Gleiches Schauspiel. Dritter Zug: Genau, keiner kann zusteigen. Endlich, bei Zug Nummer 4 (wir reden hier von insgesamt 10 Minuten), kann ich “einsteigen”, wobei die Eleganz des Wortes “einsteigen” die Situation nicht ganz korrekt beschreibt. Eigentlich ist es eher wie Rambo in Afghanistan, nur mit Regenschirm statt mit Gewehr, und in Zeitlupe. 7 Minuten später steht der Zug wieder, und zwar 100 Meter von der Endhaltestelle Shibuya entfernt. Wenige Minuten nach 10 Uhr geht die Tür auf. Ja, heute wird wieder ein schöner Tag!*
*Jaja, ich gebe es ja zu: Das ganze geschah bereits vor 10 Tagen. Heute hat es nicht geregnet.

tabibito
tabibitohttps://japan-almanach.de
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

20 Kommentare

    • Im Grossen und Ganzen sind sie es auch. Ich würde mal sagen, im Durchschnitt hat rund eine der dutzenden Linien in Tokyo zum gleichen Zeitpunkt Verspätung. Manchmal sind es mehrere, manchmal fahren alle fahrplanmäßig. Aber wenn es zu Problemen im Berufsverkehr kommt, wird es lustig.

  1. Lieber Mythischen, mein Gott wo seid ihr denn hingezogen?!? Meine Empfehlung kaufe Dir ein Moped und ziehe dich im Büro um.
    Herzliche Grüße Jack

  2. Oh Mein Gott, das hört sich ja grausam an. Ist es wirklich immer so schlimm? Ich sage nie wieder etwas schlechtes über volle Züge zur Stadt hier in De.

  3. Haha! Ich bin so froh nicht mehr die Keio-sen zu benutzen. Ich fahre jetzt jeden Morgen gemuetlich mit der Toei Oedo-sen vom Endbahnhof ab (garantierter Sitzplatz) und steige 30 Minuten spaeter in Roppongi aus. So viel besser als damals in der immer ueberfuellten Keio-sen und umsteigen in Shinjuku.
    Ja, die kleinen Freuden ….
    @Carade … ganz im Ernst, die “ueberfuellte” U-Bahn an Silvester in Berlin ist ein Witz im Vergleich zur Keio-Sen am Morgen und am spaeten Abend ….

    • In Berlin geht es zu Sylvester inzwischen eigentlich. Beide Unternehmen haben eingesehen, dass Feiertagsbetrieb eher ungünstig ist. :>
      Aber dafür fällt gerne mal eine Bahn aus, oder zwei und dann wird es auch kuschlig. Aber nicht zu vergleichen mit Tokyo hoffe ich doch. ;)

  4. Ich verstehe nicht, warum sich das manche Leute mehr oder weniger freiwillig antun. Da bin ich ganz froh, dass ich auf dem Land wohne und mit dem Auto zur Arbeit fahren kann. Ganz entspannt! :D

    • Das hängt halt von der Art der Arbeit ab. Und die Gehälter im Raum Tokyo sind nicht umsonst besser als anderswo. Würde auch lieber auf dem Land, zum Beispiel auf Kyushu, wohnen, aber das ist momentan einfach nicht realistisch…

  5. Der Reisende hat mein Mitgefühl. Jetzt weiß ich auch wieder, warum ich unbedingt in Tokyo arbeiten wollte. Aber trotzdem danke, sehr plastisch beschrieben. Ich konnte mir einen Schmunzler nicht verkneifen.

  6. so wie sich das liest sind die Transportsysteme (besonders die Bahnen] in Tokyo an/über der Kapazitätsgrenze oder seh ich das falsch?
    sind irgendwelche besonderen Projekte in arbeit oder geplant um die Menschenmassen besser zu organisieren / zuverteilen? werden ja auch nit weniger Leute in den nächsten Jahren (ok in 20-30 jahren vllt aber nit in den nächsten 10)
    denk mal auf dauer lassen sich das die Menschen das doch nit gefallen wie Sardinen behandelt zu werden oder hat sich der durchschnitts Japaner dran gewöhnt und is ihm egal ?
    und sind solche Bahnen nicht der perfekte Infektionsort für allerlei Krankheiten?

    • So viele Fragen…
      Also man macht sich schon Gedanken bei der Stadtplanung, und es werden auch gelegentlich neue Linien gebaut, aber so einfach geht es in einem so dicht besiedelten Gebiet nicht.
      Die Menschen lassen sich das durchaus gefallen – was sollen sie auch anderes machen? Prinzipiell sind die Leute diszipliniert, und diese Situation ist auch nichts Neues, das geht seit Jahrzehnten so. Letztendlich kann man dem ganzen ja auch entfliehen – indem man zum Beispiel weiter weg zieht. Dann sitzt man halt eine gute Stunde oder mehr im Zug. Oder man beisst in den sauren Apfel, steht 20, 30 Minuten in überfüllten Zügen, gewinnt damit aber pro Tag eine Stunde….
      Und ja, die Bahnen sind der perfekte Infektionsort. Tokyo gilt nicht umsonst als Erkältungshauptstadt der Welt :( Konnte im April wieder ein Lied davon singen.

      • Ich vermute mal in Tokyo sind die Intervalle auch nicht mehr zu verringern, man müsste neue Linien bauen um die Belastung zu verteilen.
        In Wien hat man ja total fehlgeplant und die Straßenbahnen aufgelassen, als U-Bahn und Buslinien eingeführt wurden.
        Die Busse sind eigentlich den ganzen Tag überlastet, und die U-Bahnen könnten eine parallel geführte Straßenbahn zur Kurzstreckenentlastung gut brauchen, da geht’s zur Pendelzeit ähnlich zu.
        Die Politik sieht das aber auch nicht als Problem, und die aufgelassenen Straßenbahnen könnte man ohnehin meist nicht mehr reaktivieren, da die Infrastruktur abgebaut wurde.

  7. Hast du als “Langjaehriger” eigentlich den Eindruck, dass sich beim Pendeln die Manieren der Mitreisenden (trotz propevollem Abteil redet keiner, kein Telefon, keiner schneuzt sich, …) irgendwie zum Positiven oder Negativen geaendert haben?

    • “keiner schneuzt sich” – doch dafür ziehen alle überlaut die Nase hoch. Das Geräusch geht dir richtig auf die Ketten, wenn es der halbe Wagon macht und du von einem Ende der Stadt ans andere willst.
      Meiner Urlaubserfahrung nach ist Tokyo diesbezüglich anders, dort ist es in der U-Bahn meist bedrückend leise, weil alle peinlich genau auf ihre “manners” bedacht sind. In anderen Städten fand ich U-Bahn fahren angenehmer, weil es dort zwar auch nicht lauter, aber wenigstens lebendig zuging.

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