Am Sonnabend, dem 3. Juli 2021, rückten die Themendauerbrenner Corona, Olympische Spiele und Präfekturwahlen in Tokyo ein bisschen in den Hintergrund – denn wieder einmal schlug die Naturgewalt zu, dieses Mal in Atami, einem beliebten Ausflugsort rund 100 km südwestlich von Tokyo. Dort (und nicht nur dort) hatte es in den 24 Stunden bis zum Ereignis rund 450 mm pro Quadratmeter geregnet, denn die Front des die Regenzeit verursachenden Tiefs blieb direkt über der Mitte Japans hängen. Gegen 10:30 morgens begann ein Hang am Izusan zu rutschen – nicht auf einmal, sondern in fünf Wellen. Insgesamt löste sich ein in etwa 100 Meter mal 100 Meter grosses, rund 10 m tiefes Stück vom Berg und rutschte quer durch den Norden von Atami geschlagene zwei Kilometer lang bis zum Meer. Der Erdrutsch riss rund 130 Häuser mit sich, 147 Menschen galten danach als vermisst. Bis zur jetzigen Stunde konnte der Aufenthaltsort von 67 Menschen ermittelt werden – 23 von ihnen wurden aus dem Schutt und Schlamm gerettet. Es fehlt also noch der Verbleib von 80 Menschen, und da die Regenfälle anhalten, wird die Bergung schwer. Zudem ist nicht ganz klar, ob wirklich alle 80 an jenem Tag dort waren, denn Atami ist ein beliebtes Freizeitdomizil für die Hauptstädter, die lediglich an freien Tagen (und bei besserem Wetter) nach Atami fahren.
Erdrutsche dieser Ort sind in Japan leider keine Seltenheit – sie geschehen vor allem im Juni/Juli während der Regenzeit, manchmal aber auch im Herbst, nach schweren Taifunen. Leider häufen sich die “Starkregenereignisse” in Japan deutlich, was mit relativ hoher Sicherheit der Globalen Erwärmung geschuldet ist: Die Meere werden wärmer, sorgen für mehr Verdunstung – und damit für kräftigere Niederschläge. Japan ist zudem besonders anfällig, denn aufgrund des hohen Vulkanismus sind viele Gegenden – auch die von Atami – relativ “jung” und damit sehr steil und unstabil. Das gilt auch für Atami, dessen Gegend stark vom nahegelegenen Hakone-Vulkan geprägt wurde.
Wer einmal in Atami war, braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie es dort zu einem massiven Erdrutsch kommen kann: Die Stadt ist geprägt durch steile Hänge, denn die Berge reichen hier bis direkt ans Meer. Eigentlich ist der Untergrund aus vulkanischem Gestein hier allerdings sehr stabil – geologisch betrachtet ist das Stadtgebiet also sicherer, als der Laie vermuten würde. Doch beim Erdrutsch, der in der Nähe einer kleinen Strasse begann, offenbarte sich ein unerwartetes Problem: Offensichtlich gab es am Ausgangspunkt der Mure eine Aufschüttung, und das, obwohl es dort keine Häuser gibt. Erste Vergleiche mit älteren Luftbildern konnten dabei keine Erklärung liefern, wann und warum dort Land aufgeschüttet wurde.
In Japan mangelte es schon immer an Bauland, weshalb seit Jahrhunderten viel Arbeit in die Gewinnung des selbigen gesteckt wurde. Neben der Neulandgewinnung direkt an der Küste gibt es dabei im Wesentlichen zwei Arten: “kirido” (wörtlich: “Erde/Boden-Schneidung”) und “morido” (Erde-aufhäufen), siehe Illustrationen unten.
Logischerweise findet beides oftmals am gleichen Berg bzw. Ort statt – was an einem Ort abgetragen wurde, wird an einem anderen Ort aufgeschüttet. Auf diese Weise wurden schon zahlreiche Hügel und kleine Berge in Japan regelrecht eingeebnet. Problematisch ist bei diesen Fällen und bei starkem Regen natürlich die Aufschüttung, erst recht, wenn der Originaluntergrund weniger wasserdurchlässig ist als die aufgeschüttete Erde: Das Wasser kann sich so zwischen altem und neuem Land durchpressen und die Auflage, mit allem, was darauf steht, ins Rutschen bringen.
Obwohl der Erdrutsch von Atami nicht zu den verheerendsten Erdrutschen in Japan zählt, offenbart er nun jedoch ein neues Problem mit hohem Potential für weitere Verluste: Es gibt kein umfassendes Kataster, in dem vermerkt ist, wann, wo und in welchem Umfang “morido” betrieben wurde. Damit wird die Risikoanalyse und das Erstellen der sogenannten “hazard maps” zum Glücksspiel. In Atami zum Beispiel war am Sonnabend “nur” die Gefahrenstufe 3 ausgerufen wurden, die zu erhöhter Wachsamkeit rät – in zahlreichen anderen Gegenden der Region hingegen herrschte bereits die höchste Warnstufe (4), bei der die Bevölkerung aufgerufen wird, sich in Sicherheit zu bringen. Aufgrund der fehlenden Information über die aufgeschüttete Erde oben am Berg war man sich schlichtweg nicht der Gefahr bewusst.
Der Erdrutsch von Atami beziehungsweise die vorangegangenen starken Regenfälle reihen sich leider nur allzu deutlich in das Bild ein, dass Japan immer öfter von regenbedingten Katastrophen heimgesucht wird – siehe Tabelle unten.
Jahr | Monat | Betroffene Gegend | Tote & Vermisste | Überschwemmte/zerstörte Häuser |
---|---|---|---|---|
2020 | Juli | Zentralkyushu | 86 | 11,000 |
2018 | Juni/Juli | Westjapan | 224 | 34,000 |
2017 | Juni/Juli | Nordkyushu | 40 | 1,600 |
2014 | August | Westjapan | 44 | 1,700 |
2013 | Juli | Nordkyushu | 30 | 5,400 |
2012 | Juli | Zentralkyushu | 33 | 8,400 |
2006 | Juli | West- & Zentraljapan | 30 | 5,000 |
1972 | Juli | Kyushu, Shikoku + Honshu | 421 | 68,000 |
1957 | Juli | Nordkyushu | 722 | 28,000 |
Die beiden unteren Einträge zeigen, dass es diese Katastrophen auch schon vor Jahrzehnten gab, doch die Ereignisse häufen sich – in den letzten zehn Jahren kam es nahezu in jedem Jahr zu verheerenden Fluten und/oder Erdrutschen. Außerhalb der Taifunsaison, wohlgemerkt. Taifune sind in der obigen Tabelle nicht berücksichtigt.
Es bleibt nur zu hoffen, dass die rund 1,500 Helfer vor Ort, darunter auch Mitglieder der Selbstverteidigungsstreitkräfte, noch den einen oder anderen retten können, denn die nächsten starken Regenfälle sind bereits im Anmarsch.
Wird wohl so auch woanders (z.Bsp. in Europa) zu Problemen führen.
Gut möglich. Aber in Japan ist es wesentlich extremer – hier sind Niederschläge mit bis zu 100mm pro Stunde keine so grosse Seltenheit, und aufgrund des Vulkanismus ist hier wesentlich mehr “extreme terraforming” angesagt als in good old Europe…
Spätestens zu unserer Altersruhe werden wir vermutlich zurück nach Kyushu ziehen.
Auch wenn es bis dahin noch einige Jährchen sind, schaut man natürlich immer wieder mal welche Ecken für ein Eigenheim in Frage kommen könnten.
Die größte Sorge treibt mich da tatsächlich bzgl. der Erdrutsche um. Viel mehr als Erdbeben oder Tsunamis.
Entsprechende Kataster wären dabei natürlich wirklich hilfreich… Hoffentlich werden in der Hinsicht die Präfekturen und Gemeinden in den nächsten Jahren etwas aktiver. Wobei es mit der nachträglichen Datenerfassung sicher sehr schwierig ist.
Wenn ich ganz tief in meinem Gedächtnis wühle, meine ich, dass du vor einiger Zeit einen Artikel geschrieben hast, bei dem man versucht aufgrund der Ortsnamen Rückschlüsse auf die frühere Geographie zurückzuführen. Z.B. wenn es früher dort einen Fluss gab, der mittlerweile umgeleitet oder begradigt wurde und das Wohngebiet nun auf unvorteilhaften Sedimenten steht.
Bissl schnell Gedacht: Wenn der Ortsteil 峰 beinhaltet, aber mehr oder weniger alles platt ist, kann es schon ein Hinweis auf früheres “kirido” und “morido” sein.
Ja, das war der Artikel hier:
https://www.tabibito.de/japan/blog/erdbebensicher-schau-auf-den-bushaltestellennamen/
Ach, Kyushu. Wirklich eine schöne Gegend, und auch wir spielen ja mit dem Gedanken, irgendwann in die Heimat meiner Frau zu ziehen. Leider wurde in den letzten Jahren immer deutlicher, dass Kyushu mit hoher Wahrscheinlichkeit zu den grossen Verlierern des Klimawandels gehören wird.
Oha, fast 6 Jahre ist der Beitrag schon her…? :-D
Vielen Dank! Über die Suche hatte ich es nicht mehr gefunden.
Ja, das mit dem Klimawandel ist auch noch ein weiterer Faktor den wir abwägen werden müssen.
Vielleicht wird dann Hokkaido und der potentiell milder werdenden Winter interessanter.
Wie gesagt, ein paar Jahre sind es ja noch bis dahin.