Letzten Freitag gab es viel zu tun. Als ich das Büro abschloss, war es bereits nach 22:00 Uhr. Draussen war es mollig warm und schön schwül. Wurde die Regenzeit etwa schon für beendet erklärt? nach 10 Minuten Fußmarsch kam ich am Bahnhof Ebisu an und stieg in die Yamanote-Linie. 2 Minuten später stieg ich in Shibuya aus, lief diverse Treppen (83 Stufen, um genau zu sein) herab zur Den’entoshi-Linie. Vor den Ticketschranken eine riesengroße Masse schwitzender Menschen. Aha. Die Den’entoshi-Linie fährt dann wohl nicht. “Wegen Rauchentwicklung im Bahnhof Shibuya verkehrt die Linie nicht. Wahrscheinlich geht es ab 23:10 weiter” stand an der Anzeige. So lange wollte ich nicht warten. Nach 5 Minuten Fußmarsch durch die Eingeweide von Shibuya stellte ich mich an die lange Schlange vor der Rolltreppe zum Bahnsteig der Toyoko-Linie an. Ich war offensichtlich nicht der einzige mit der Idee, einen kleinen Umweg zu nehmen, um trotzdem ans Ziel zu kommen. Der Plan: Mit der Toyoko-Linie nach Jiyugaoka fahren, dort in die Ōimachi-Linie steigen und bis Futako-Tamagawa fahren. Dort kann man in die Den’entoshi-Linie umsteigen, die ja nur rund um Shibya nicht fuhr.
Trotz der vielen Menschen war der Zug weit weniger voll als die Den’entoshi-Linie um diese Zeit. Zwei Minuten später fuhr der Zug ab. Hauptsache weg vom Gewimmel in Shibya. Neben mir steht ein älterer, sehr elegant gekleideter Mann, neben ihm ein jüngeres Pärchen. Der Mann betrachtet angestrengt einen Streckenplan der Bahnlinien in und um Tokyo. Sind ja nur über tausend Bahnhöfe. Er sieht etwas verloren aus – und schaut nun hilflos-fragend das Pärchen an. “Wissen Sie vielleicht, wie ich nach Hiyoshi komme?” Der junge Mann überlegt nur kurz und sagt dann” Dieser Zug fährt unter anderem durch Hiyoshi!” Allerdings fahren wir gerade mit dem “kakueki”, dem Zug, der an jedem Bahnhof hält. Sicherhaltshalber melde ich mich nun auch zu Wort und sage dem Mann: “Sie können auch in Jiyugaoka in den Express umsteigen, der hält ebenso in Hiyoshi und ist schneller da!”
Der ältere Mann schaut erst den jungen Mann und dann mich (also zwei junge Männer, ähem) an, lächelt, seufzt erleichtert und dankt uns. Doch etwas scheint ihn nicht in Ruhe zu lassen, denn wieder schaut er angestrengt auf den Plan. Das wiederum läßt weder den jungen Mann noch mich in Ruhe. Der junge Mann bohrt nach: Wo wollen Sie denn eigentlich hin? Geht es von Hiyoshi noch weiter? Der Mann lässt sich mit der Antwort einige Zeit. Dann sagt er “Saginuma!”. Der junge Mann zuckt mit den Achseln. Also springe ich ein: “Also wenn Sie nach Saginuma wollen, wäre Hiyoshi ein Umweg. Am besten steigen Sie dann in Jiyugaoka in die Ōimachi-Linie um, fahren dann bis nach Futako-Tamagawa, oder wenn der Zug bis dahin durchfährt nach Mizonokuchi, und dort können Sie dann in die Den’entoshi-Linie umsteigen. Wenn Sie einen Express erwischen, ist Saginuma bereits der nächste Bahnhof.” Ich fühle genau, dass ich jetzt mehr als einen Zuhörer habe, aber das soll mir egal sein. “Ich fahre ebenfalls in die Richtung, ich kann Ihnen gern den Weg weisen” biete ich ihm noch an.
Gesagt, getan. Er steigt mit mir in Jiyugaoka aus. Wir laufen die Treppen herunter zur Ōimachi-Linie, und schon bald kommt ein Zug, der sogar bis Mizonokuchi durchfährt. Der Mann beginnt, sich mit mir mit leiser Stimme und sehr freundlichem, gebildeten Japanisch zu unterhalten. In den folgenden 15 Minuten reden wir über Deutschland, Angela Merkel, Ministerpräsident Abe, Informationstechnologie und so weiter und so fort. Ich erfahre, dass er gerade von einem klassischen Konzert kommt und nun jemanden besucht, dem er ein Mitbringsel gekauft hat. Wir nähern uns der Endhaltestelle. Als wir aussteigen – ich steige hier in den Bus um, da mein Fahrrad in Reparatur ist – sage ich ihm sicherheitshalber noch mal, wie es weitergeht: Auf der anderen Seite des Bahnsteiges fährt soeben die Den’entoshi-Linie ein – wenn er dort einsteigt, sei er in 5 Minuten in Saginuma. Plötzlich macht der Mann ein so hilf- wie ratloses Gesicht und fragt ganz erstaunt: “Saginuma?”
Oh je. Ich fragte noch mal nach: “Aber Sie sagten doch, dass Sie nach Saginuma wollen!?” Er überlegt kurz, dann erhellt sich sein Gesicht: “Ja! Genau! Das war ja einfach! Gut, dass ich Sie getroffen habe!”, bedankt sich mehrfach und läuft zur anderen Seite des Bahnsteigs. Und er lässt mich mit einigen Fragen zurück. Wo wollte er denn nun wirklich hin? Wird jemand in Saginuma auf ihn warten – nachts, um halb 12? Und: Werde ich auch mal so enden? Ich hoffe nicht. Aber das fragende “Saginuma?” wird wohl noch eine Weile in meinen Kopf herumschwirren.
Ach Mensch jetzt hab ich mich schon innerlich auf irgendwas rassistisches von einem der Zugfahrer vorbereitet, und dann nimmt das so eine traurige Wende.
Da wär mir ja fast noch ein herzliches “waito piggu” lieber gewesen
:(
Hmm, also mit rassistischen Aussagen von Passagieren kann ich leider/zum Glück nicht dienen. Mag daran liegen, dass viele Japaner mein Anblick erstmal als “kowai” einstufen :)
Der nordische Skinhead-Look wirkt nicht nur auf Japaner einschüchternd :P
Oi!
Manchmal hat man auch einen kurzen Blackout, bei dem Wetter in Tokyo kein Wunder. Was fällt mir noch ein … nicht mehr der Jüngste, zu später Stunde noch unterwegs … aber man macht sich schon Gedanken, in 18 Jahren gibt es bei mir auch Rente.
Es gibt Situationen, die gehen einem nicht mehr so einfach aus dem Kopf, da muss ich dir voll zustimmen. Sicherlich hat er Familie …
Im Alter leidet das Kurzzeitgedächtnis… Es wird uns alle irgendwann treffen.
Schöne Erfahrung und danke fürs Teilen hier auf deinem Blog.
Ach Japan, das Land vermisse ich einfach so sehr.
Wohnst du zufällig in/bei Mizonokuchi? Wir haben da ab Ende August ein Häuschen :)
Irgendwelche Insidertipps?
Ich wohne knapp 10 km von Mizonokuchi entfernt und bin oft dort. Tipps? Hängt davon ab, wie alt Ihr seid, was Ihr vorhabt usw.!
Anfang/Mitte 30, 2 kleine Kinder :)
Das übliche also: Malls, Restaurants, Parks. Gibt es vielleicht sowas wie einen Kindertreff für Deutsche?