BlogNur ein kleines Wörtchen

Nur ein kleines Wörtchen

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Es war im Herbst 1998 – ein halbes Jahr war ich nun schon an der japanischen Uni, und ein Professor fragte mich, ob ich nicht bei einem Seminar an einer anderen Universität einen Vortrag halten möchte. Das Thema war 文化摩擦 – Kulturelle Unterschiede (wörtlich eigentlich: Kulturelle Reibereien), und der Vortrag sollte auf Japanisch gehalten werden. Bei der Uni handelte es sich um die kleine カリタス女子短期大学 Caritas Kurzuniversität für Frauen¹ im piekfeinen Viertel Azamino (Yokohama). Natürlich sagte ich zu. Warum nicht. Es ging ja nur um ein Seminar. Eine Woche später fuhr ich also zur besagten Uni und wurde in die Aula geführt. Dort sassen… rund 150 kichernde um die 20-jährige Studentinnen. Ah ja. Unter Seminar hatte ich mir etwas anderes vorgestellt. Ich nahm also auf dem Podium Platz, zusammen mit zwei weiteren Ausländern und zwei Japanerinnen. Die Japanerin neben mir begann als erste, ihren Vortrag vom Blatt abzulesen. 5 Minuten lang redete sie darüber, wie angetan sie davon war, dass Engländer beim Aussteigen aus dem Bus dem Fahrer “Thank you!” sagen. Sie sei erst vor kurzem dort gewesen, und diese Freundlichkeit hatte sie so sehr fasziniert, dass sie prompt darüber eine 5-minütige Rede verfasste. Aha. Recht hatte sie freilich: Japan ist in Sachen Dienstleistung extrem anspruchsvoll, und man erwartet von jedermann, dass er gefälligst seinen Job ordentlich macht, und wehe wenn nicht. Und da die Leute ja schliesslich bezahlt werden, erübrigt sich überflüssige Kommunikation zum Beispiel in Form eines Dankeschöns.
Doch was musste ich nach meinem Umzug in den Westen von Kawasaki, nur 5 km von besagtem Azamino entfernt, erleben: Die Menschen hier werfen den Busfahrern ein “Arigatō gozaimasu!” zu beim Aussteigen! Alle! Sogar die Mittel- und Oberstufenschüler, und die sind in Japan nicht unbedingt für ihre Höflichkeit berühmt!
Was war in den vergangenen 16 Jahren passiert? Gab es irgendwann mal eine “Sei nett zu Busfahrern!”-Kampagne? Durchaus denkbar. Etliche Ortsverbände pflastern die Gegend mit “Lasst uns eine freundliche Stadt bauen! Grüßt immer schön Eure Mitmenschen”-Plakaten zu (und ich finde das sogar gut!). So etwas geschah also vielleicht mal und trug entsprechend Früchte in der langen Zeit. In anderen Gegenden Japans habe ich das zumindest noch nicht erlebt in Bussen. Ich finde das schön: Die Menschen steigen aus, sagen Dankeschön und der Busfahrer dankt zurück.
Als verantwortungsvoller !? Vater bleut man seinen Kindern natürlich auch ein, immer schön Danke zu sagen. Da kann auch ich sehr penetrant werden. Dabei ist es interessant, wie schnell Kinder lernen, den Sprachhebel umzulegen: Schon im zarten Alter von 2 bis 3 Jahren mustern sie ihr Gegenüber, wenn ich ihnen auf Deutsch “Sag Dankeschön!” zuraune, und sagen dem Ergebnis der Musterung entsprechend entweder Danke oder Arigatō. Nun ja, Übung haben sie genug, denn das Prozedere findet mehrmals am Tag statt…
¹ Bei der Gelegenheit musste ich gerade feststellen, dass besagte Universität jetzt schließt: Studentenmangel.

tabibito
tabibitohttps://japan-almanach.de
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

6 Kommentare

  1. Also in Berlin bin ich immer die Einzige, die den Busfahrer beim Einsteigen grüßt, auch wenn ich versucht habe, das den Kids aus der japanischen Schule einzubläuen.
    Ich hatte in Japan mal ein Seminar über Pragmatics (ein Teil der Linguistik), und die japanische Dozentin hat gern Leute im Supermarkt beobachtet und dabei festgestellt, dass gerade die reichen, vornehmen Damen, die sonst wohl nur Dinge wie ご機嫌よう oder あら、宜しいわね sagen, zu den Kassiererinnen extrem unhöflich sind. Tüte? 結構!

  2. Mich hat das auch sehr stark irritiert, aber mittlerweile gehe ich dort etwas entspannter ran. Hat jemand eventuell persönliche Kontakte zu Menschen im Dienstleistungssektor und weiß, wie die darüber denken?

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