So, heute hatte ich etwas mehr Glück mit dem Wetter: Morgens vereinzelte Wolken, die sich später wohlwollend in Luft auflösten. Ziel war der 磐梯山 Mt. Bandai, ein 1’819 m hoher Berg bei Aizu Wakamatsu. Jener gehört zu einer Vulkankette, und früher gab es zwei Berge namens Bandai: Der kleine und der grosse Bandai. 1881 beschloss der Vulkan Bandai jedoch, etwas aktiver in das Projekt Terraforming einzugreifen: Ohne Vorwarnung explodierte der kleine Gipfel und verschwand daraufhin Richtung Tal. Etliche Dörfer verschwanden, ein Fluss wurde aufgestaut und eine neue Seenplatte entstand.
Soviel steht erstmal fest: Antizyklisch reisen in Japan ist jedes Mal ein Vergnügen: Man hat die gesamte Infrastruktur beinahe für sich allein. So geschehen heute in 猪苗代 (Inawashiro) – der einzige Insasse im Bus Richtung Bandai-Plateau war ich. 750 Yen ärmer und 30 Minuten später war ich in 五色沼入口 (Goshiki-Numa Iriguchi – Eingang zu den fünffarbigen Seen). Dort gibt es einen leichten, ca. 4 km langen Wanderweg vorbei an verschiedenfarbenen Seen.
Dort wimmelt es nur so von Rentnern, und wie es in Japan Usus ist, grüsst man sich mit einem freundlichen Nicken und “konnichiwa”, wenn man sich beim Wandern begegnet.
Nach dem Rundgang ging es endlich los. Erstmal eine lange, staubige Strasse entlang. Dann eine lange Skipiste herauf. Dann geht es in den Wald. Es riecht leicht nach Schwefel, der daran erinnert, dass man sich auf einem nachwievor aktiven Vulkan befindet.
Der Waldweg ist angenehm, aber es geht gut bergauf. Im Vergleich zum Gassan ist der Aufstieg aber noch recht zivil: Man kann sich nahezu ausnahmslos aufrecht durch das Gelände bewegen. Nichtsdestotrotz läuft man fast zwei Stunden lang nur bergauf – kein Wunder: Es gilt, 1’000 Höhenmeter, verteilt auf rund 2 Kilometer, zu bewältigen. Wann hört die Vegetation auf, dachte ich dabei die ganze Zeit: Schaut man von Norden auf den Berg, sieht man nämlich keine Bäume, nur blankes Gestein und fast senkrechte, vulkantypisch sehr bröcklige Wände. Irgendwann bemerkte ich rechterhand einen grossen, roten Hügel: Aha, der Herbst hat hier definitiv schon begonnen. Aber wo ist der Gipfel?
Auf ca. 1,600 m stehen zwei Hütten – dort werden Getränke und Andenken verkauft. Die Besitzer, ein altes Ehepaar, sprechen mich vorsichtig an. Und geben mir einen kleinen Becher mit Kaffee, für umsonst. Sie betreiben den Laden seit vielen Jahren. Sie steigen jeden Morgen hoch und jeden Abend herunter. Im Gepäck: die Getränke, die sie verkaufen. Wahnsinn.
Der Ausblick ist grandios – in der näheren Umgebung gibt es nur einen einzigen Berg, der höher ist – der 西吾妻 Nishi-Azuma, 2’035 m hoch und ebenfalls ein Vulkan. Man sieht die Stelle, an der der kleine Bandai stand, mehr als deutlich. Ein Traumanblick für Geografen und Geologen. Ich bin überrascht, denn der rote Hügel ist bereits der Bandai – von der Hütte sind es nur noch 20 Minuten – die letzten Meter sind wirklich steil, aber man bewegt sich mitten durch Krüppel… nein, Kiefern sind das nicht. Und dann steht man auf dem Bandai und überschaut einfach alles. Ein grandioser Berg und relativ leicht zu ersteigen.
Schnell ein Onigiri verzehrt, die Aussicht genossen und allmählich zum Abstieg klargemacht – es ist immerhin schon 14:30. Die gleiche Route zu nehmen halte ich für langweilig und wähle deshalb die Südroute (bei diesem Berg auch “Vorderseite” genannt). Vorteil: Ich muss nicht wieder mit dem Bus fahren, sondern kann direkt zum Bahnhof laufen. Nachteil: Andere Wanderer hatten mich schon gewarnt, dass die Route 険しい (steil, schroff) ist. Sie hatten recht. Kein Zickzack, sondern steil den Berg hinunter. Keine Bäume, an denen man sich zur Not festhalten kann, stattdessen loses Geröll und ein Gefälle, dass jeden Fehltritt zur echten Gefahr macht – hier kann man sich an nichts festhalten, es geht einfach steil bergab. Dass die Steine dort zum Teil bimssteinartig sind, macht die Sache nicht einfacher – nicht nur, dass selbst grosse Steine oft unerwartet lose sind, nein, sie zerbröseln teilweise sogar beim rauftreten. Und so geht es auf allen vieren runter.
Das letzte klitzekleine Problem war nur noch, den Bahnhof zu finden. Letztendlich erwies sich der Abstieg als ebenso anstrengend wie der Aufstieg – zumindest erfordert er weit mehr Konzentration. Wer auch immer den Bandai in Angriff nehmen möchte, sei gewarnt: Für die Südroute braucht man eine sehr gute Kondition beim Aufstieg – und gutes Schuhwerk + ein Mindestmass an Erfahrung beim Abstieg.
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Seit gestern mittag bin ich übrigens in Aizu Wakamatsu – ein Ort, den jeder Japaner aus den Geschichtsbüchern kennt, da die Stadt historisch bedeutsam ist. Sehr bekannt ist die Geschichte der 白虎隊 (Byakkotai – “Trupp der weissen Tiger”), die während der Meiji-Restauration gegen die kaiserliche Armee für alte Werte kämpfte. Besagte Gruppe sah von einem Hügel die Stadt brennen, und dachte, die Burg sei gefallen (was aber wohl nicht der Fall war). Sie hielten die Lage daraufhin für aussichtslos und so beschloss eine Gruppe von 20 16 bis 17-Jährigen Samurai-Azubis, Seppuku (aka Harakiri) zu begehen. Einer überlebte (die einen sagen, seine Frau fand ihn, andere sagen, ein Bauer fand ihn) und lebte noch bis 1931, die anderen waren “erfolgreich”.
Diese Geschichte ist sehr beliebt in Japan, und sowohl Mussolini als auch die Nazis liebten die Geschichte sehr. Mussolini sandte eine Originalstele aus Pompei:
Darin preist er die “BIACCOTAI” (vorletzte Zeile). Gezeichnet wurde mit ANNO MCMXXVIII VI ERA FASCISTA – Jahr 1928 – Jahr 6 der Faschisten (Mussolini wurde 1922 Ministerpräsident). Auf der Rückseite würdigt man “Allo Spirito du Bushido” – das wurde wohl nach 1945 von den Alliierten entfernt, später aber wieder erneuert. Aiuch ein deutscher Gedenkstein, gezeichnet “Ein Deutscher – Den jungen Rittern von Aizu” von 1935 steht dort – das Hakenkreuz wurde und bleibt bei diesem Stein entfernt.
Wie es der Zufall so will, war gestern in Aizu auch grosses Festival – Mittelalterspektakel auf Japanisch, sozusagen:
Das schönste am Bergsteigen heute – ca. 20 km Längenkilometer und 2,500 Höhenmeter – war erwartungsgemäss das Herumlümmeln im Onsen und das Bier danach. Prost!
Die Japaner die dich ansprechen gehen doch bestimmt davon aus, dass du Amerikaner bist, der nur Englisch spricht. Wie sind den so die Reaktionen?
schönes Spektakel… Hach ich vermisse Japan
Sehr schön der Ausblick!
Hast du noch mehr Bilder? Ich will die anderen farbigen Seen auch mal sehen.
Gruß Nico
Na, ein wenig Sehnsucht nach einem Geografen-Job? Das wäre auch mal wieder so eine Gegend, welche ich gern besuchen würde. Japan kommt so langsam in die engere Reisezielliste.
Der Bericht über die Hütten hat mich gleich an den Südtiroler Yeti Reinhold erinnert, der ja von solchen Einrichtungen wenig begeistert ist. Macht es sich nicht auch für die Betreiber einfacher solche Hütten am Anfang respektive Ende der Wanderroute aufzustellen? Erstens der beschwerliche Weg jeden Tag. zweitens der Natur wegen.
Nein ich sage nichts…. da geht er alleine, mutterseelenalleine…….Steinschlag, Geröllawinen, Pyroklastische Ströme……nein ich sage nichts ),D
@Juergen
Ach, das ist alles nicht mehr so dramatisch. Klar tippen viele auf Englisch-Lehrer (noch eher als auf Amerikaner), aber eins, zwei sehr typisch japanische Floskeln reichen eigentlich, um ein ganz normales Gespräch anfangen zu können.
@Nico
Mehr Bilder gibt es hier:
http://www.flickr.com/photos/tabibito-x/sets/72157622328642799/show/with/3953772564/
@Terry
Naja, irgendwo bleibt man doch mit seinem ehemaligen Studienfach verbunden :-)
Sicher wäre es einfacher, die Hütten am Weganfang/ende aufzustellen. Problem: Da stehen schon welche! Ich sehe das auch mit gemischten Gefühlen. Einerseits ist es schön, wenn da plötzlich jemand einem einen kostenlosen, heissen Kaffee anbietet. Andererseits geht auch etwas verloren: Wie jetzt, ich hab’ mich gerade hier hochgekämpft – nur um einen Laden hier vorzufinden? Aber da kann man wohl nichts machen: Das ist eben Japan.
@Heydal
Hey, von pyroklastischen Strömen war nicht die Rede, das ist was anderes!
Übrigens gibt es bei vielen höheren japanischen Bergen ein System mit einem Schriftstück namens 登山届 (Tozan-todoke, “Bergwanderformular”. Das besteht aus zwei Teilen: Man schreibt Datum, Uhrzeit, Handy-Nr. und Namen rauf, wirft einen Teil des Zettels beim Aufstieg in einen Kasten und den zweiten Teil, wenn man wieder unten ist. Das wird jeden Abend ausgewertet. Fehlt das zweite Stück, wird versucht, die Person anzurufen. Geht das nicht, ruft man Verwandte an. Denen hat man natürlich pflichtbewusst bescheid gesagt, wo und welche Route man einschlägt.
Aber mal ehrlich: Auf der Südroute habe ich mich allein sicherer gefühlt. Ein Fehltritt des Partners, und Dir fliegen die Brocken um die Ohren. Andersrum natürlich genauso. Andererseits: Ich rede hier nachwievor von Bergwandern, nicht Klettern.
Hey danke für den Link. Die Bilder sind wirklich wunderschön, besonders dieser Azurblaue See!
Yep wirklich hübsche Bilder!
So gerne ich das mal selber sehen würde (wie so viele Orte hier in Japan) hat die Geschichte für mich einen bösen Haken, ich hasse “Bergsteigen” in jeder, selbst milden, Form.
Bin maximal ein Flachland Hiker.
Was ich bei solchen Bilder klar bedaure.
Mal ne andere Frage, du redest was von antizyklisches Reisen.
Eine nette Idee da ich auf Menschenmengen (besonders aus Touristen jeder Facon) allergisch reagiere.
Ich hatte erwartet aufgrund der Feiertage die Orte wo du bist überflutet mit Horden von Wanderern zu finden… warum ist dem so nicht?
Kann Nico und Michael nur zustimmen, sehr schöne Bilder (auch wenn ich persönlich das eine oder andere Bild ne halbe bis 2/3 Blende runter gezogen hätte, aber das ist zum einen Geschmackssache ;), zum anderen auch eine Frage des Monitors, mit dem man sie betrachtet)
@Michael,
Ich hatte zwei Tage frei genommen, um die Woche voll zu machen, aber das haben scheinbar nicht allzu viele gemacht. Montag, Dienstag und Mittwoch war es entsprechend relativ voll überall, aber am Donnerstag war es beinahe wie ausgestorben.
@Marcus
Hatte aus Zeitnot alle Fotos hochgeladen, ohne zu sortieren – deshalb sind da auch etliche Maden dabei. Dein Tipp ist ansonsten nicht verkehrt und sicherlich bei einigen der Aufnahmen angebracht. Gerade am Bandai waren es, zumindest beim Aufstieg, sehr schwierige Lichtverhältnisse.