Die sogenannten 引きこもり hikikomori – Menschen, die sich komplett aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen – sind zwar keine rein japanische Besonderheit, aber dieser japanische Begriff hat es dennoch in die weite Welt geschafft, genauso wie das ebenfalls nicht auf Japan begrenzte, aber gern als japanisches Phänomen bezeichnete, da hier gehäuft auftretende 過労死 karōshi (“Tod durch Überarbeitung”). Beide Phänomene sind äußerst negative Randerscheinungen der japanischen (Arbeits)welt und werden von der Politik durchaus ernst genommen, beziehungsweise zumindest gut untersucht. So veröffentlichte gestern das japanische Kabinettsamt zum ersten Mal seit 2010 eine umfangreiche Studie¹ zum Thema und stellte dabei fast, dass es in ganz Japan insgesamt 540,000 hikikomori in der Gruppe der 15 bis 39-jährigen gibt². Als hikikomori gilt, wer mindestens 6 Monate lang maximal zum Convenience Store oder zum Frönen des eigenen Hobbys nach draussen geht, ansonsten aber weder einer Arbeit nachgeht noch an irgendeinem Unterricht teilnimmt. Zu dieser Altersgruppe gehören insgesamt 35 Millionen Japaner – damit liegt der Anteil der freiwilligen Einsiedler bei 1,5%. Im Vergleich zur Studie im Jahr 2010 sind es immerhin 150’000 Menschen weniger, jedoch: Zum einen schrumpft diese Altersgruppe, zum anderen hat man diese Zahl aus der vergleichsweise kleinen Versuchsgruppe von 3’115 Menschen extrapoliert (befragt wurden 5’000 Menschen, geantwortet haben gut 3’000). Immerhin hat man so herausgefunden, dass ein gutes Drittel der hikikomori bereits seit mehr als 7 Jahren nichts anderes macht als zu Hause zu sitzen.
Die Studie stellte ebenfalls fest, dass sich der Anteil der 35 bis 39-jährigen mehr als verdoppelt hat, was möglicherweise bedeutet, dass die hikikomori einfach älter werden und nicht geringer, denn wie viele +40-jährige dazu zählen, wurde nicht untersucht. Ob die Zahlen nun etwas grösser sind oder kleiner ist jedoch nebensächlich, denn Japan kann es sich nicht leisten, eine halbe Million Menschen an den heimischen Futon zu verlieren, denn diese Menschen fehlen in der Wirtschaft. Immerhin gibt es aber einen Hoffnungsschimmer: Suga, Chef des Kabinettssekretariats, und noch weitere Politiker, mutmassten bereits, dass möglicherweise Pokémon GO die Einsiedler raus ins tobende Leben locken könnte³. Das wage ich allerdings zu bezweifeln, denn die Gründe für das komplette Zurückziehen aus der Gesellschaft sind oft nicht ohne weiteres zu beseitigen – in vielen Fällen waren es traumatische Erlebnisse in japanischen Firmen…
¹ Den Fragebogen der Studie “Zum Leben junger Menschen” kann man hier einsehen.
² Siehe unter anderem hier (Japanisch) und hier (Englisch).
³ Siehe unter anderem hier (Japanisch).
Ich glaube die zahlen haben wirklich ein Grund zur Sorge der Regierung
Danke fuer den Artikel. Dass das Phaenomen zum Teil aus eigenen Erfahrungen in Japanischen Firmen herruehrt, wusste ich nicht.
Nicht direkt zum Thema, aber verwandt ist ein Artikel der ZEIT zum Phaenomen der “Bullshitjobs”:
http://www.zeit.de/karriere/beruf/2016-08/david-graeber-berufe-bullshitjobs-unternehmensberater