Neulich – genauer gesagt am 29. Juni – widmete sich ein Kolumnist der Japan Times dem japanischen Rechtssystem, und zwar auf eine Art und Weise, das selbst Laien (sprich: meine Wenigkeit) das Geschriebene nachvollziehen können. Hintergrund war die Tatsache, dass immer mehr Botschaften Juristen damit zu beauftragen, das japanische Rechtssystem ins Licht zu rücken. Ganz speziell ging es darum, herauszufinden, was Botschaften für ihre Bürger im Falle von Kindesentführungen tun können. Entführt nämlich zum Beispiel eine japanische Mutter ohne Einverständnis des Mannes ihr Kind nach Japan, so wird das in Japan nicht geahndet – im Gegenteil, kommt es danach womöglich zur Klage seitens des Mannes, so stehen die Chancen gleich Null, dagegen etwas machen zu können (siehe hier). Entführt hingegen ein Elternteil ohne Einverständnis des Anderen ein Kind aus Japan und wird dabei ertappt, ist eine Verurteilung quasi sicher. Nach welchen Maßstäben wird da wohl gemessen?
Natürlich sind auch in Japan Gesetzesbücher frei zugänglich. Das muss schon sein. Logischer erster Schritt (für mich als Laien zumindest) wäre dementsprechend, erstmal nachzuschlagen, was die Gesetze so sagen. In oben genannten Fällen ist der Gesetzestext jedoch ziemlich schwammig – zwar werden Höchst – und Mindeststrafen festgelegt, aber es fehlt eine eindeutige Definition dazu, was Kindesentführung gilt und was nicht. Welche Kriterien müssen erfüllt werden, um den Strafbestand zu erfüllen? Um diese Frage zu beantworten, gibt es Kommentare und Urteilsbegründungen relevanter Verfahren in der Vergangenheit. Genau hier liegt jedoch der Hund in Japan begraben: Vergangene Urteilsbegründungen können in der Regel nicht eingesehen werden, auch nicht von Juristen. Begründung dazu: Schutz der betroffenen Personen.
Das könnte eventuell auch einer der Gründe sein, warum es an japanischen Gerichten nur sehr selten Freisprüche gibt – Verteidiger haben kaum eine Chance gegen die Art und Weise der Auslegung der Gesetze durch die Staatsanwaltschaft. Sind Ermittler und Staatsanwaltschaft von der Schuld überzeugt, war es das – man kann nicht mit einem “bei dem und dem Urteil wurde aber zu Gunsten des Angeklagten entschieden” daherkommen.
Zitiert wurde in dem Zusammenhang auch ein Sprichwort von Konfuzius: Man muss die Gesetze nicht kennen – es reicht, wenn man sich daran hält. Schön gesagt: Wie in fast jedem anderen Land auch sieht man Gesetzesübertretungen nahezu ununterbrochen: Rote Ampeln überfahren, Radfahrer mit Regenschirm oder beim Telefonieren usw. usf. Selbst eine einfache, dahingesagte Beleidigung reicht aus, um gegen das sehr schwammige Gesetz der “Störung der öffentlichen Ruhe” zu verstoßen – ein Japaner wurde wohl mal zu einer Bewährungsstrafe verdonnert, weil er eine fremde Frau in einer Bar als “fett” bezeichnete.
Das Wort des Tages: 刑法 keihō. Strafe-Gesetz. Das Strafrecht.
Ich hoffe nur, dass ich solange ich hier bin mit dem Gesetz nicht in Konflikt gerate. Wenn man die Tokyo Two anschaut oder den Prozess um den Kapitän der Sea Sheperd. Alles Andere als rechtsstaatlich – von fair wollen wir gar nicht sprechen…..
Der Straßenverkehr ist nach meinem Eindruck auch ein Beispiel für ein anderes Rechtsvertändnis. Zwei Beispiele:
Ich habe mal eine Zeit lang meine japanischen Bekannten mit der Frage genervt, wer an einer Kreuzung (ohne Ampel oder Verkehrsschild) eigentlich Vorfahrt habe. Wohlgemerkt nur Leute mit Führerschein. Die Antworten waren sehr vielfältig. Z.B.,
– so eine Kreuzung gebe es gar nicht
– die größere Straße
– das größere Auto
– wer zuerst da ist
– keiner, alle müssen aufpassen usw.
Das zweite Beispiel bezieht sich auf die vielen Radfahrer, die auf der rechten Straßenseite fahren, und zwar nicht als bewusste Verkehrübertretung, sondern einfach, weil es im gegebenen Fall praktischer ist. So auch an nicht einsehbaren Kreuzungen. Wenn man auf der rechten Seite kommt und nach rechts abbiegen will, fährt man einfach rechts um die Ecke und wundert sich dann, wenn einem jemand frontal entgegen kommt. Wenn man zufällig auf der linken Straßenseite fährt und nach rechts abbiegen will, schneidet man die Kurve. Das machen auch Mütter mit kleinen Kindern auf dem Fahrrad oder in Begleitung von Kindern, die schon selbst fahren können. Es hat mit Rowdytum oder Verkehrsübertretung nichts zu tun, sondern nur mit einer geringeren Verrechtlichung des Straßenverkehrs.
Sehr interessant. Zu einem sogenannten Rechtsstaat gehört eigentlich auch eine nachvollziehbare Judikative, dass heisst eine vorhgersehbare Rechtsprechung.
Wer eindeutig gegen ein Gesetz verstösst, muss damit rechnen, bestraft zu werden. Wenn das Gesetz aber Spielräume lässt, sollte man wissen, wann man denn auf dem falschen Weg ist. Und abgesehen davon wäre es auch wüschenswert zu wissen, was einem denn bei einem Verstoss erwartet. Sonst ist man der Willkür der Richter ausgesetzt.
Und das Rechtssystem, welches derartige Vorhersagen nicht offenbart, kann sich nicht als rechtsstaatlich bekleckern.
Nur falls es jmd. interessiert: Japan hat sein Rechtssystem zu großen Teilen aus Deutschland “importiert” (und Korea quasi aus Japan) und es dann wo nötig an die vor-ort-Anforderungen angepasst bzw. nur das importiert was man für gut befunden hat. Es ist dann schon interessant zu sehen, dass extrem viele Juristen in Japan und Korea sich dann auch so stark mit dem deutschen Rechtssystem befassen aber im eigenen Land dann dennoch es nicht wagen irgendwas anzutasten, was den “Geist der Harmonie” in ihrem Verständnis angreifen könnte. Denn auch völlig egal wieviel man sich abgeschaut hat: Rechtskonflikte sind in Korea und Japan doch eher etwas, was man tunlichst vermeiden möchte. Eine Klagekultur wie in Deutschland oder USA wird es dort niemals geben… zumindest nicht auf absehbare Zeit.
@Terry
du meinst also die USA?
Wo es nach Präzedenzfällen geht und bestimmte Sozialegruppen dank gut gewählten Geschworenen vermehrt Gefägniss und Todesstrafe ausgesetzt werden?
SCNR
Nicht das Japans Rechtssystem toll wäre, seit 45 ist es ein Mix zwischen deutscher (Weimarer) und amerikanischen Rechtssystem wo man wohl in beiden Fällen nicht das beste dann ausgesucht hat.
Ein Bekannter (Jurist) nannte es mal ein deutsches Gericht mit amerikanischer Prozessordnung was in Japan passiert. (oder umgekehrt bin mir da jetzt nicht so sicher, IANAL)
Ev. passend
Letztens wurden Kundenkommentare auf eBay analysiert und heraus kam das Deutsche 4 mal häufiger Verkäufern mit dem Anwalt drohen als Engländer…
Und IMHO nur in dt. Newsgroups wird übrigens regelmäßig mit juristischen Nachspielen gedroht.
AFAIK sind wirklich nur Amerikaner noch klage-freudiger als Deutsche.
Mich würde da interessieren auf welchem Platz Japan in so einem Rennen liegt.
@Michael
Neee! Im anglikanischen Recht bin ich nicht wirklich bewandert. Allerdings sind eben die Urteile auch in dem schwer vom Geldbeutel abhängigem Rechtssystem der USA frei zugänglich. Ob Präzedenzfälle jedoch Geschworene beeindrucken ist sehr fraglich.
Und das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen lässt sich mit einer entsprechenden Bereinigung leicht schützen. Wenn man es denn will.
FACK man muss sich nicht wegen jedem Sch… rumklagen. Ich denke da wird wohl Jakub mit der Streitkultur in Ostasien recht haben. Wie werden aber strafrechtlich relevante Delikte behandelt? Unter einen Teppich kann man diese nunmal nicht kehren.
@Terry
ACK Der Zugang zu existierenden Urteilen ist wirklich leicht in den USA.
Ich finde die Einführung von Schöffen in Japan einen interessanten Vorgang, ob pro oder con. kann ich noch nicht sagen.