Wenn ich über diverse Orte in Japan schreibe, komme ich aus dem recherchieren nicht mehr raus. Und mitunter trifft man da auf ganz interessante Begebenheiten. So geschehen bei einer längeren Recherche über die Izu-Halbinsel südwestlich von Tokyo. Eine einzigartige Region, die ich nicht oft genug besuchen kann. Die Küste ist spektakulär und das Innere der Halbinsel bergig – mit dem Amagi als dem höchsten Berg.
Eben dieser Berg wurde im Jahr 1957 Schauplatz des tragischen Endes einer Romanze: In den Bergen fand man die Leichen eines jungen Mannes und einer jungen Frau. Der junge Mann hielt eine Pistole in den Händen und nahe der Köpfe lag ein zusammengeknülltes Taschentuch mit Haaren und Fingernägeln der beiden Leichen. Dies sind Symbole eines 心中 shinjū, wörtlich: „Herzenszentrum“, hier aber eher als “wahres Herz” zu übersetzen – ein Doppelselbstmord zweier Verliebter, wie er von einem japanischen Dichter im 17. Jahrhundert in einem seiner Stücke beschrieben wurde.
Der Fall war deshalb so bedeutsam, weil es sich bei der 19-jährigen Frau um 愛新覚羅慧生 Aisin-Gioro Huisheng handelte – eine Adlige. Ihr Vater war der jüngere Bruder des letzten Kaisers von China, und ihre Mutter eine japanische Adlige. Da die Dynastie in ihrer Heimat gewaltsam beendet und Angehörige der kaiserlichen Familie verfolgt und eingesperrt wurden, schickte sie ihre Familie auf eine Eliteuniversität in Japan, wo sie den 20-jährigen Japaner Ōkubo kennenlernte. Da Huisheng eine Adlige und Ōkubo ein gewöhnlicher Bürger war, gab es in Huishengs Familie großen Widerstand gegen die Verbindung – schliesslich galt sie als potentielle Ehefrau von Akihito, der später von 1989 bis 2019 japanischer Kaiser (Motto seiner Regierungszeit: Heisei) werden sollte.
Die beiden Verliebten verschwanden am 4. Dezember 1957 und wurden ein paar Tage später am Amagisan gefunden. Auf Wunsch von Ōkubos Vater wurden die beiden letztendlich zusammen eingeäschert und erst im Familiengrab der Ōkubo, später dann im Familiengrab der Aisin-Gioro bestattet. Der Vorfall wurde als 天城山心中 Amagisan-Shinjū bekannt.
Fälle wie diesen gab es schon in der Edo-Zeit mehrfach – und zwar so oft, dass das Wort “shinjū” sogar verboten wurde, um diesem Ritual den Pathos zu nehmen. Den letzten bekannten “Shinjū-Fall” gab es im Jahr 2005, allerdings mit ganz anderem Hintergrund. Damals entdeckten Anwohner eines stillgelegten Krematoriums ein Auto mit laufendem Motor, aus dem laut klassische Musik erklang. Im Krematorium fand man die eingeäscherten Leichen zweier Menschen. Ein 80-jähriger Mann hatte sich dort zusammen mit seiner 82-jährigen Gattin, jene war bereits seit Jahren von Diabetes und Alzheimer gezeichnet, selbst eingeäschert.
Interessanterweise existiert auf YouTube sogar ein Fernsehbericht aus jener Zeit über den Doppelselbstmord von Amagi.
Wie faszinierend! Das war mir gar nicht bekannt. Dankeschön für das Erzählen!
Liebe Grüße
Natalia