Es war wieder soweit – 4 Jahre sind vergangen seit der letzten Fussball-EM, und ebenso seit dem letzten 三社祭 Sanja-Matsuri, dem 3-Schreine-Fest in Urayasu, vor den Toren von Tokyo. 2012 hatte ich mir das Spektakel auch angesehen – und 2008. Habe ja schliesslich neun Jahre dort gewohnt, genau in der Mitte der Stadt, wo es auch gleichzeitig am ruhigsten ist, da sich das ganze Geschehen hauptsächlich rund um die Bahnhöfe abspielt, und Urayasu hat drei davon. Und alle drei lagen ziemlich exakt genauso weit von meiner damaligen Wohnung entfernt – 2 Kilometer.
Urayasu kann man relativ leicht in vier Teile untergliedern: Tokyo Disneyland und Umgebung – eine Stadt innerhalb der Stadt, dann das Neuland entlang der Bucht – geprägt von großzügigen Neubauten, in denen passable Wohnungen bei einer halben Million Euro Kaufpreis beginnen. Dann der Nordteil, einst ein Fischerdorf – mit etwas rauher, aber herzhafter Atmosphäre und den letzten verbliebenen Fischern und Muschelpulern. Zu guter letzt noch die Mitte, die den todvornehmen Süden vom rauhen Nordteil kennt. Für die Hergezogenen und die, die sich nicht entscheiden komnten oder wollten.
Vor zwei Jahren sind wir weggezogen. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Und seit einem Jahr war ich nicht mehr in der Stadt, dabei ist die nur eine Stunde mit dem Zug entfernt. Doch am Sonntag bekam ich umgehend das Gefühl, dass mein eigentlich öfter zurückkehren sollte. Sicher, Freunde kommen uns gelegentlich besuchen, oder man trifft sich in der Mitte, in Tokyo, aber allein mal wieder die salzige Meerluft zu schmecken – das merkt man freilich nicht mehr, wenn man dort lebt (man merkt es nur daran, dass einem sämtliche Fahrräder innerhalb eines Jahres unter dem Hintern wegrosten) – hat was. Und das Sanja-Matsuri erst: Dieses Fest ist ausserhalb von Urayasu relativ unbekannt, bei Touristen sowieso. Es ist auch schwer zu beschreiben, denn es gibt keine Hauptattraktion. Die eigentliche Attraktion ist die pure Grösse der Veranstaltung: Drei Schreine lassen da ihre mikoshi gleichzeitig, aber auf drei ganz verschiedenen Routen durch die Stadt tragen. Und ein Zug besteht dabei aus dutzenden mikoshi – grössere für die Männer und Frauen, winzige für die Kinder. Alle Einwohner sind draussen. Die Nachbarschaftsverbände stellen Zelte und Stühle raus. Die Strassen sind von Menschenmassen – nur wenige sind von ausserhalb – gesäumt, wenn der kilometerlange Zug unter gewaltigen, heiseren “mae da!”-Rufen der verschwitzten, bei den Männern nicht selten äußerst spärlich bekleideten Schreinträger durch die Stadt rollt. Und es ist ein Knochenjob: Die Balken, auf denen die Mikoshi platziert sind, packen nochmal ordentlich Gewicht zum eigentlichen Schrein hinzu. Die Träger stehen sehr eng, und alle dutzend Meter wird der Schrein hochgehoben, gar mehrfach hochgeworfen oder nur knapp über dem Boden horizontal hin- und hergedreht. Von Freitag bis Sonntags. Von 9 Uhr morgens bis 19 Uhr abends.
Dieses Matsuri gibt es seit den 1910ern, und bis in die 1950er war das ganze auch unter dem Namen けんか祭り kenka-matsuri (Zankfest) bekannt, da sich die Anhänger der drei verschiedenen Schreine gerne miteinander prügelten. Zeitweise wurde die Veranstaltung deshalb sogar verboten. Wenn man sich heute die Hauptakteure so ansieht, kann man sich noch immer gut und gerne vorstellen, das es durchaus rauher zugehen kann: Viele Yakuza sind dabei, und noch viel mehr やんちゃ yancha – kurz umschrieben etwas weniger angepasste Jugendliche. Doch es geht friedlich zu heutzutage. Sehr laut zwar und wenn man das erste Mal dabei ist leicht bedrohlich, aber friedlich. Unzählige Kinder sind auch dabei, und die werden soweit möglich und zur Freude der Kleinen mit einbezogen. Es herrscht shitamachi-Flair (下町shitamachi – “Unterstadt” – hier wohnt der hart arbeitende, und trotzdem arme Teil der Bevölkerung). Genau diese Atmosphäre vermisse ich an meinem Wohnort doch tatsächlich ein bisschen – dort ist es nicht genug Stadt um eine Unterstadt zu entwickeln. Aber man kann ja nicht alles haben.
Wir hatten uns unheimlich auf das Sanja Matsuri während unseres Japan-Urlaubs gefreut, und über den großen Zufall, dass dieses Fest genau in unseren zweiwöchigen Aufenthalt fiel – leider wurde es dann ja wohl eine Woche vorverlegt? Mit dieser Information haben uns japanische Bekannte (im Nachhinein) versorgt, sonst hätten wir es gar nicht mitbekommen. Sehr schade!