Zu den Einwohnern der bergreichen Tohoku-Gegend (der Nordosten von Honshu) habe ich schon lange ein ambivalentes Verhältnis – spätestens, als ich mal drei Wochen lang mit Teilnehmern der Region im Rahmen eines Jugendsportaustauschprogramms durch Deutschland tourte. Sagen wir mal so: Man merkt den Leuten an, dass sie aus einer rauen, kalten Gegend stammen. Die Kollegen aus Kyushu sind da in der Regel ganz anders gestrickt. Bei meiner neuerlichen Tour durch die Gegend in der vegangenen Woche konnte ich befriedigt feststellen, dass meine Vorurteile auf erdenen Füßen ruhen. Besonders erquicklich war da die Übernachtung in einer 宿坊 shukubō, einer Tempelherberge (in der zumeist Pilger nächtigen). Die Herbergsmutter war ziemlich mürrisch. Das Abendessen wurde für 18:30 vereinbart, und als ich eins, zwei Minuten zuvor die knarksende Treppe herunterlief, rief eine andere Angestellte schon “konee na” (“der kommt wohl nicht”). Die Tatsache, dass ich quasi in dem Moment um die Ecke bog und dementsprechend den Ausruf hören konnte, war den beiden egal. Beim Abendessen schließlich gab es neben mir nur einen einzigen Gast – einen laut schlürfenden und schmatzenden Japaner älteren Semesters. Einer der Gründe für einen Aufenthalt in einer Tempelherberge ist dabei das 精進料理 shōjin ryōri, die nicht selten vegane, zumindest aber vegetarische Tempelküche. Meinem lauten Nachbarn wurde ein Tablett voller Schüsseln vorgesetzt und umgehend erklärt, woraus sich das Mahl zusammensetzt. Danach war ich an der Reihe – und wurde nach einigem Zögern gefragt, ob sie was zum Essen erzählen sollte. Da mein Nachbar weit weg sass, konnte man von der vorherigen Erklärung nicht viel hören. Natürlich will ich wissen, welche seltsamen Wurzeln und Pasten ich mir da gleich zu Gemüte führen würde – deshalb bin ich ja hier! Die Erklärung war dann schließlich relativ knapp und lieblos. Naja.
Es gab auch andere typische Tohoku-Begegnungen – doch wie immer zählten dazu auch einige sehr positive. Besondere angetan war ich von der älteren Ehefrau eines Tempelherren. Mir fiel bei kurzer Recherche auf, dass sich am Dewa-Sanzan, an den drei heiligen Dewa-Bergen in Yamagata, ein kleiner Tempel befindet, der die älteste Sokushinbutsu-Mumie der Gegend (Anfang des 16. Jahrhunderts!) beherbergt. Und dieser lag quasi auf meinem Weg. Also machte ich einn Abstecher dahin, nur um enttäuscht festzustellen, dass der Tempel geschlossen ist. Wie so häufig wohnt der Hausherr nebst Familie jedoch gleich daneben – und neben der Tür befand sich ein Schild, dass Besucher aufforderte, zu klingeln. Eine älter Frau öffnete, und ich trug ihr mein Leid vor. Sie meinte daraufhin, dass der Tempel in der Regel geschlossen ist und man bei einem Besuchswunsch vorher telefonieren muss. Doch sie könne den Tempel für mich aufschliessen, aber da der Herr des Hauses nicht da ist, könne ich keine ausführlichen Erklärungen erwarten. Sprach’s, holte den Schlüssel, machte den Tempel auf und hernach den großen Holzkasten, in dem die Mumie, in betender Gestalt, versteht sich, hockte, und schaltete das Licht an. Und begann hernach mit einer sehr ausführlichen, fast 15 Minuten dauernden Erklärung. Selbst Fragen, die ich danach zum Thema stellte, antwortete sie völlig souverän und sehr freundlich-geduldig. Letztendlich erlaubte sie mir sogar noch, das Innere von außen heraus zu fotografieren. Ich war begeistert.
Auch ein anderer Herr blieb mir in Erinnerung. Er betreibt ein Ramenrestaurant, und kein gewöhnliches: Es handelt sich um スッポンラーメン suppon raamen. Suppon ist der japanische Name für chinesische Weichschildkröten, deren Fleisch zwar fürchterlich schmeckt, dafür aber als Allheilmittel (und wohl auch als Potenzmittel) gilt. Seine Suppon-Ramen hat sich der Besitzer sogar patentieren lassen. Äußerst hungrig und neugierig konnte ich die Gattin überreden, mir eine Schale zuzubereiten (ich war der einzige Gast, und Mittag war schon lange vorbei). Des Gatten und Koches Patent besteht darin, die Suppe so zuzubereiten, dass sie geniessbar ist. Und sie ist es. Die Fleischbeilage hingegen schmeckt nicht überraschend äußerst penetrant. Nach einer kurzen Unterhaltung stellten wir fest, dass Verwandte der Familie quasi gleich bei mir um die Ecke wohnen. Danach erfuhr ich umgehend alles, was ich noch nie über Suppenschildkröten wissen wollte. Alles in allem ein sehr liebenswertes Paar.
Und so habe ich mir meine ambivalente Meinung behalten können. Und ich muss jedes Mal daran denken, dass meine Frau auch des öfteren über maulfaule Norddeutsche geklagt hat. Muss wohl am Klima liegen.
Danke für den Schmunzler. Erklärt vielleicht, warum mich das einst bei meiner Tohoku Tour nicht störte. Meine Frau kommt aus Kyushu und hat, Überraschung, mit Norddeutschen im allgemeinen und Berlinern im speziellen so ihre Probleme. Könnte also was dran sein.
Meine Frau kommt auch aus Kyushu, da können wir das gleiche Lied singen :)
Moin.
Na, dann sollte ich mich in Tohoku ja wie zu Hause fühlen xD
In meinen Kontakten mit verschiedenen Leuten aus verschiedenen Teilen Deutschlands haben ich bemerken können, dass sich die aus Norden doch ziemlich von allen anderen unterscheiden…