Neulich war ich, wie jedes Jahr, auf einer Konferenz, bei der sich hauptsächlich viele hundert Hochschulenglischlehrer, aber auch viele Verlage und andere Anbieter zum Thema englische Bildung in Japan austauschen. Die Konferenz ist interessant, denn es gibt hunderte Vorlesungen und Präsentationen sowie zahlreiche Stände, bei denen man sich über das Fach austauschen kann. Zu den einzelnen Aktionen dort gehören auch “Poster Presentations”, bei denen Lehrer ihre Forschungsergebnisse und oder Unterrichtsmethoden vorstellen können. Auf Englisch. Die beste Präsentation wird später auch geehrt. Nun begab es sich also, dass ich vor einer dieser Poster stehenblieb, und sofort stand die Verantwortliche auf meiner Seite, um ihre Präsentation zu erklären. Das war auch nötig, denn neben einem schlechten Layout war auch die Präsentation der Fakten, wie sagt man so schön, eine Herausforderung: Es war von vornherein nicht ganz klar, worum es eigentlich ging. Doch dank der Erläuterung kam Licht ins Dunkke. Sie hatte staatlich genehmigte Englischlehrbücher dahingehend untersucht, inwiefern sie pragmatisches Englisch erklären. Dafür benutzte sie mehrere Marker – zum Beispiel “can-do’s” wie “Sich entschuldigen können” oder “um etwas bitten können” und dergleichen, wie sie auch für CEFR zum Einsatz kommen. Mit dieser Liste durchforstete sie die Bücher, um zu sehen, ob selbige all diese Fähigkeiten vermitteln oder eben nicht. Zwei verschiedene Kursmaterialien wurden untersucht – ein Kurs vermittelte so gut wie gar nichts, der andere wenigstens ein paar davon. Aber dazu eine kurze Anmerkung: Das Bildungsministerium Japans (MEXT) bestimmt, welche Lehrbücher an den Schulen benutzt werden dürfen. Dies sind dann staatlich genehmigte Lehrbücher, deren Benutzung im Prinzip Pflicht ist. Schulen dürfen aber zur Ergänzung Hilfsmaterialien benutzen, und die obliegen nicht der Genehmigungspflicht. Wenn Englischlehrer nun also feststellen, dass die offiziellen Lehrbücher zu nichts taugen, dann hilft ihnen das nur bedingt etwas – sie können dann lediglich versuchen, die Situation mit selbst erstellten oder, so es die finanzielle Lage hergibt, anders beschafften Produkten Abhilfe schaffen.
Das Conclusio der Lehrerin – diese unterrichtete an einer berufsfördenden Oberschule – war, dass die offiziellen Lehrbücher nicht allzu viel pragmatisches Englischwissen vermitteln. Die Schüler wissen also trotz des Englischunterrichts nicht, wie sie etwas bestellen auf Englisch bestellen können, um nur ein Beispiel zu nennen. Ergo, so der Schluss, sind Lehrer gut darin beraten, zusätzliche Lehrmaterialien zu benutzen. Das machte mich neugierig: Welche denn? Es gab keine konkrete Antwort, doch eine chinesische Englischlehrerin, die sich in der Zwischenzeit hinzugesellt hatte, half nach: Haben Sie denn ein konkretes Beispiel? Was empfehlen Sie persönlich? Schließlich wurde sie präziser: SIe könne da “Pair & Share” von Izuna Shoten, einem japanischen Verlag, empfehlen. Nun kenne ich zwar die meisten englischbezogenen Unterrichtsmaterialien in Japan, aber der Name war mir neu. Ich schaute kurz im Internet nach und war baff – das Buch war voller Japanisch. Das ist zwar nicht neu, aber hier stand sie: Die engagierte Englischlehrerin inmitten von hunderten, meist ausländischen Englischprofessoren sowie unzähligen Vertretern ausländischer Lehrbücher, mit der Erkenntnis, dass die offiziellen Lehrbücher unzureichend sind – und der Empfehlung, Englischbücher zu benuzten, die… nun ja, so gut wie gar kein Englisch enthalten. Das war absurd. Doch auf die Frage, ob sie denn wirklich denkt, dass man mit diesen auf Japanisch geschriebenen Unterrichtsmaterialen wirklich pragmatisches Englisch lernen könnne, wa sie nicht vorbereitet. Sie begann zu stammeln, dass es ja nicht das einzige Fach sei, und dass die Englischkenntnisse ja meistens eher schlecht seien und so weiter.
Natürlich sind die Englischkenntnisse ihrer Schüler eher schlecht. Aber dazu ist sie ja schließlich auch da: Als Englischlehrerin, deren Aufgabe es ist, die Kenntnisse zu verbessern. Um uns herum standen plötzlich ein paar mehr Lehrer, und die meisten stimmten mir zu. Bis auf eine rund 60-jährige, offensichtlich sehr streitlustige Japanerin. Sie merkte sofort an, dass die meisten Englischbücher in Japan fast nur Japanisch enthalten – da diese sich am besten Verkaufen. Der Druck des Marktes auf die Verlage habe diese Situation erschaffen, und die Verlage sind zu mächtig, um dagegen anzugehen. Sicher: Damit hat sie ja auch recht. Aber jetzt wurde es mir zu wild: “Aber um diese Lage zu ändern sind doch Lehrer da! Und Alternativen gibt es ja wohl mehr als genug, wie man just auf dieser Konferenz sehen kann!”. Betretenes Schweigen, aber jetzt kam ich leider in Fahrt: “Es heisst immer, dass Japaner schlecht Englisch sprechen, weil es für sie schwieriger ist als für andere Muttersprachler, Englisch zu lernen. Warum sind dann Koreaner so viel besser?” Koreanisch ist die dem Japanischen ähnlichste Sprache, man kann sie also zum Vergleich heranziehen. Chinesen hingegen sollte man lieber nicht zum Vergleich heranziehen, denn aufgrund der größeren phonetischen Vielfalt und einer großen Ähnlichkeit im Satzbau im Chinesischen und Englischen ist es für sie in der Tat um ein Vielfaches leichter, Englisch zu lernen. Doch man muss sich da wirklich nur mal die Lehrbücher ansehen: Die meisten, im freien Handel erhältlichen Bücher zum Thema Englischlernen stammen aus Japan, und sie sind fast immer komplett auf Japanisch geschrieben. Importierte Lehrbücher fristen ein Schattendasein. Das war schon immer so, und das ist auch immer noch so. Zahlreiche selbsternannte Englisch-Gurus in Japan befeuern das Ganze, und das nicht selten mit abstrusen Ideen und verrückten Marketingstrategien wie “Du musst diese CD nur 5 Minuten am Tag hören, und schon wirst Du in ein paar Monaten Englisch können”. Produkte wie diese finden sich immer wieder auf Bestsellerlisten.
In den Schulen ist der Ansatz schon aus mehreren Gründen problematisch: Wenn der Englischlehrer die ganze Zeit auf Japanisch vor sich hinredet, werden die Schüler gleich mit zwei schweren Dingen konfrontiert: Zum einen sollen sie eine Fremdsprache lernen, zum anderen sollen sie simultan auch noch lernen, blitzschnell zwischen zwei Sprachen umzuschalten. Dass dabei nicht viel herauskommt, leuchtet ein – zumal die Klassen meistens auch zu groß und die Zeit zu gering ist.
Japan schneidet zwar in Pisa- und anderen internationalen Studien zum Thema Bildung regelmäßig gut bis sehr gut ab, doch mit Englisch hapert es. Schon immer. Dabei versuchte die Regierung durchaus, etwas an der Sache zu ändern – lernten die Kinder bis vor 10 Jahren erst ab der Mittelschule Englisch, so wurde das Anfangsalter erst auf die 5. Klasse, im Jahr 2020 auf die 3. Klasse herabgesenkt. Außerdem wurden die Eintrittsprüfungen für die Universitäten überarbeitet, so dass heute ein blosses Ankreuzen (“multiple choice”) nicht mehr ausreicht. Doch nun das: Der Mitte November veröffentlichte EF English Proficiency Index , welcher alljährlich die Englischkenntnisse in über 100 Ländern, in diesem Jahr waren es 116, misst, platziert Japan auf Rang 921, drei Plätze vor Afghanistan. Und nicht nur das: Seit 14 Jahren verschlechtert sich Japan von Jahr zu Jahr. Bis ungefähr 2015 wurden die Englischkenntnisse in Japan mit “Moderate Proficiency” beschrieben – jetzt ist das Land nur einen Platz von “Very Low Proficiency” entfernt. Mit anderen Worten: Die Maßnahmen der Regierung haben absolut nichts gebracht. Im Gegenteil.
Woran liegt das wohl? Es ist sicherlich zu einfach, die ganze Misere dem eingangs beschriebenen Typus von Englischlehrer in die Schuhe zu schieben. Sicher, der Einsatz sprachpädagogisch unsinniger Unterrichtsmaterialien trägt sicherlich nicht zur Verbesserung bei, doch es gibt noch viel mehr Gründe.
Beispiel Herabsetzung des Alters beim Sprachunterricht: Das Projekt war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, da die Lehrer an so ziemlich allen Grundschulen hoffnungslos überfordert waren. Es gab keine speziellen Schulungen, keine Sonderkurse – den Lehrern wurde einfach aufgedonnert, jetzt neben allen anderen Fächern auch Englisch zu unterrichten, und das war es auch schon. Zwar können die oberen Jahrgänge der Grundschüler nun ein paar Englischvokabeln, doch das geht nicht über das stereotypische “This is a pen” hinaus. Nach 4 Jahren an der Grundschule ist CEFR A2 noch nicht einmal in Sicht.
Ein weiteres Problem ist ein gewachsenes Desinteresse an Englisch seitens der ジェンジー, der Generation Z. Sicher, ihnen wird eingebläut, dass man Englisch benötigt, um später bessere Chancen am Arbeitsmarkt zu haben, doch spätestens seit dem Rückzug etlicher Firmen nach der Erdbebenkatastrophe und dem GAU von Fukushima aus Japan ist das Interesse an ausländischen Firmen gesunken. Zumal da auch noch all die modernen Hilfsmittel wären: TikTok und Co. blenden bereits automatisch übersetzte Untertitel ein, weshalb die Notwendigkeit, Vokabeln zu kennen, gesunken ist. Natürlich benutzen die Kinder auch schon KI-basierte Systeme, um mit den Hausaufgaben auf Englisch klarzukommen.
Die Pandemie hat der Sprachindustrie ebenso zugesetzt, und das hört man zunehmend auch aus der Gastronomie: Zwar gab es keinen Lockdown, doch trotz dessen blieben viele Menschen den Bars, Clubs und Restaurants fern – und viele kamen nicht zurück. Diesen Eindruck erhält man natürlich nicht in den Hochburgen des Nachtlebens woe Shibuya oder Roppongi, aber etwas außerhalb ist der Tenor der gleiche: Die Menschen gehen weniger unter Menschen, der Wille zur Kommunikation mit Fremden sinkt, und das schließt auch das Erlernen und Anwenden von Fremdsprachen mit ein.
Interessanterweise schneidet die VR China ebenso schlecht ab – sie liegt auf Rang 91 im oben erwähnten Ranking, obwohl es für Chinesen ungleich einfacher ist, Englisch zu lernen. Das hat allerdings rein politische Gründe, während es in Japan viel mehr gesellschaftliche Gründe gibt.
Zu guter letzt wäre da noch die Frage: Wen kümmert’s? Ausländern, die lange in Japan leben und fließend Japanisch sprechen, kann das eigentlich egal sein. Mir ist es allerdings nicht egal, denn es schmerzt schon ein bisschen zu sehen, wie sich ein Volk – mal wieder – in die selbstgewählte Isolation begibt. Das Erlernen von Fremdsprachen, davon bin ich fest überzeugt, erweitert den Horizont und hilft ungemein, Sprache, und dazu gehört auch die eigene, bewusster zu benutzen. Ohne das Lernen einer Fremdsprache ist es schwer, die Macht der Wörter zu begreifen. KI hin oder her – diese mag zwar helfen, den einen oder anderen Text zu übersetzen oder zu verfassen, doch zur Horizonterweiterung trägt sie ganz sicher nicht bei.
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