BlogIwao Hakamata oder das lebende Plädoyer gegen die Todesstrafe

Iwao Hakamata oder das lebende Plädoyer gegen die Todesstrafe

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In der vergangenen Woche machte ein alter Mann die Schlagzeilen, der nur noch mühsam gehen und sprechen kann: Iwao Hakamata, geboren 1936 in Shizuoka und damit 78 Jahre alt. Vor 48 Jahren war er das Gegenteil dessen, was er heute verkörpert: Er war ein Profiboxer. Heute hält er jedoch einen vom Guinnessbuch der Rekorde zertifizierten, traurigen Rekord: Niemand sass länger in der Todeszelle als er. Genau – 48 Jahre lang. In der vergangenen Woche entschied das Gericht, nach zahlreichen erfolglosen Anläufen zuvor, dass der Fall wieder neu verhandelt werden – und der Angeklagte bis dahin freigelassen werden muss.

Hakamata arbeitete nach Karriereende in einer Miso-Fabrik. 1966 brannte das Haus einer seiner Vorgesetzten nieder, und nach eigenen Angaben versuchte Hakamata, das Feuer zu löschen. Nach dem Brand fand man die Familie des Vorgesetzten – Mann, Frau und zwei Kinder – erstochen in der Ruine. Und es fehlte eine grosse Menge Geld. Umgehend wurde Hakamata festgenommen. Und es begann eine Tortur. Angeblich wurde er 264 Stunden lang verhört, oftmals 16 Stunden am Tag, 23 Tage lang. Das reichte anscheinend aus, ihn zu brechen: Er gestand die Tat. Aber er widerrief sein Geständnis vor Gericht. Doch die Polizei präsentierte ein Pyjama des Verdächtigen, mit Blutflecken der Opfer. Drei Richter verurteilten in 1968 zu Tode.

Da sass Hakamata also in der Todeszelle. In Japan bedeutet dies verschärfte Einzelhaft, nur sehr wenige Besuche und absolute Ungewissheit: Weder der Todeskandidat noch seine Familie oder Anwälte erfahren, wann die Hinrichtung stattfindet. Dies kann ein paar Monate oder ein paar Jahrzehnte nach der Urteilsverkündigung geschehen. Nur wenige Stunden vor der Hinrichtung wird der Todeskandidat eingeweiht.

Es gab etliche Versuche, den Fall wieder aufzurollen. Einer der drei Richter, Kumamoto, trat 2007 an die Öffentlichkeit und erklärte, dass an dem Fall wahrscheinlich etwas faul war. Und doch dauerte es bis 2014, bis endlich erneut verhandelt wurde. Dieses Mal mit einer DNA-Analyse, die nahezu zweifelsfrei feststellte, dass Hakamada mit dem einzigen Beweisstück nichts zu tun hat – sehr wahrscheinlich wurde dieses von der Polizei gefälscht.
Allein 2013 wurden in Japan acht Gefangene exekutiert. Hakamata hat die lange Einzelhaft mürbe gemacht. In den letzten Jahren wurden fast alle Besuche nicht genehmigt – das betraf vor allem seine ältere Schwester, die in all den Jahrzehnten immer zu ihm stand. Nun ist er also “draußen”, in einem Zeitalter, in dem er sich nur schwer zurechtfinden dürfte. Gebrochen, mit Diabetes und psychischen Schäden. Ob er jemals wieder froh wird? Man darf es bezweifeln. Dieser Fall zeigt deutlich, warum die Todesstrafe – ob in Japan oder anderswo – abgeschafft gehört. Und dass die japanische Art und Weise, Todeskandidaten zu behandeln, einfach unmenschlich ist. Sicher, der Großteil der Japaner unterstützt die Todesstrafe. Ist es deshalb richtig, als Außenstehender die Abschaffung zu verlangen? Unbedingt. Der Großteil der deutschen Bevölkerung stand auch hinter den Nazis. Das bedeutet jedoch nicht, dass das, was die Nazis gemacht haben, richtig war. Eine etwas brutale Analogie, vielleicht, aber bloss weil die öffentliche Meinung nach dem Galgen verlangt, muss das noch lange nicht heissen, dass dies legitim ist.

Dieser Fall kennt eigentlich nur Verlierer: Hakamata, seine Familie, das japanische Justizsystem, die Polizei – keiner hat etwas gewonnen. Aber es kennt einen Helden: Kumamoto, dessen späte Reue dafür gesorgt hat, dass der Fall wieder in die Öffentlichkeit rückte. Er hätte genauso gut schweigen können, aber er trat an die Öffentlichkeit, weil ihn sein Gewissen plagte. Und natürlich Hakamata’s Schwester, die all die Jahrzehnte zu ihm gehalten hat.

tabibito
tabibitohttps://japan-almanach.de
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

7 Kommentare

  1. Wenn man sich それでもボクはやってない ansieht und diverse Berichte von inhaftierten Gaijin durchliest, zeichnet sich ein sehr düsteres Bild.
    Da besteht dringender Reformbedarf, nicht nur bei der Todesstrafe.

  2. Für die meisten Betroffenen wird es nie eine gerechte Strafe für die Täter geben. Der Tod des Mörders liefert keine Befriedigung für die Hinterbliebenen. Die Trauer über den unnützen Verlust besteht weiter und es sollte sich die Frage gestellt werden, was dann der Tod genützt hat!
    Eine Reue des Täters und Wiedergutmachung (ich weiß, funktioniert bei dem Tod eines menschen nicht) können für die Betroffenen und die Gesellschaft wesentlich vorteilhafter sein. Letztendlich muss sich die Gesellschaft entwickeln, dass derartige taten nicht mehr ausgeführt werden. Den Ursachen muss begegnet werden. Alles andere ist zu spät.
    Und: wie der hier geschilderte Fall zeigt – wer weiß, wie viele Unschuldige es jedes Jahr mit dieser Bestrafung trifft!

    • Naja, ich bin auch kein Fan der Todesstrafe, aber um die Befriedigung der Angehörigen/der Opfer geht es dabei eher weniger. Vielmehr soll die Möglichkeit dieser extremen Strafe als Abschreckung wirken und somit eigentlich genau das bewirken, was du dir wünscht: Eine Gesellschaft, die derartigen Taten nicht mehr begeht.
      Ob das funktioniert oder nicht sei mal dahingestellt.
      Aber Wiedergutmachung und angebliche Reue nach deinem Modell helfen vermutlich ebenfalls niemandem – vom Täter mal abgesehen.
      Denn die andere Seite der Medaille sind diese unsäglichen Urteile für z.B. Vergewaltigung und Mord durch bspw. U-Bahnschläger & Co., bei denen die Täter irgendeine, natürlich vom Anwalt vorgesagte, Entschuldigung alá “Es tut mir ja so Leid, ich bereue die Tat und entschuldige mich aus tiefsten Herzen bei den Angehörigen” nachplappern und sich das Strafmaß anschließend auf eine minimale Haftstrafe + ein paar Resozialisierungsmaßnahmen beschränkt.
      Irgendwo dazwischen liegt wohl das, was man als “angemessenes Strafmaß” bezeichnen könnte. Insofern befürworte ich eine Abkehr von der Todesstrafe.
      Komplett außen vor lass ich dabei mal die Verurteilung Unschuldiger. Aber auch die fälschlicherweise wieder freigelassenen Schuldigen. Das ist ein noch deutlich schwierigeres Thema…

  3. Ich möchte keine Debatte über die Todesstrafe lostreten, aber ich frage mich, was Japan davon hat ihre zum Tode Verurteilten im absoluten Ungewissen zu lassen, was den Zeitpunkt der Vollstreckung angeht. Das hat für mich etwas von “nochmal nachtreten”.
    Und 48 Jahre, die Zahl muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, ist fernab von Gut und Böse!

  4. Ich wage zu behaupten, dass die Strafe, die er abgesessen hat (ob unberechtigt oder nicht kann ich nicht beurteilen) sogar schlimmer ist als die Todestrafe. Einen Menschen 48 Jahre einzukerkern, immer in der Gewissheit, man könnte bald sterben, ist einfach nur grausam und wirft ein schäbiges und widerliches Licht auf die japanische Gesellschaft.

  5. Murakami Haruki hat sich ja gegen die Todesstrafe ausgesprochen.
    In einem Englischkurs an der Waseda, den ich mir angesehen haben, sollten die Studenten auch über die Todesstrafe diskutieren.
    Ich persönlich bin zwar auch (wie Myo) gegen zu lasche Strafen, aber die Todesstrafe gehört abgeschafft. Erklär doch mal einem Kind, wieso es nicht okay ist, jemanden zu töten, und das mit einem Mord durch den Staat bestraft wird.
    (Und als Abschreckung taugt die Todesstrafe wohl auch nicht, wenn man sich mal die USA ansieht. Im Gegenteil nutzen sie manche Japaner wohl sogar als Selbstmordmethode.)

  6. Ich denke diese Geschichte ist an Tragik kaum zu übertreffen. Man versucht etwas Gutes zu tun und kommt dann wortwörtlich in die Hölle. Es wäre zu wünschen, dass diese Geschichte zumindest etwas ins rollen bringt… und das stark genug.
    Ich kann mir jedoch vorstellen, dass es noch sehr lange gehen wird, bis die Todesstrafe in Japan endlich abgeschafft wird. Ein Grund mag auch sein, dass ich schon Japaner/innen getroffen habe, die gar nicht von der Todesstrafe wussten. (Mir gelang es jedoch etwas Nachhilfe zu leisten – Wikipedia sei Dank!)
    Ich selbst habe das mit der Todesstrafe auch relativ spät herausgefunden – doch über die eigenen Gesetze (dieses Ausmasses) sollte man doch informiert sein? An die, die in Japan leben: Werden Todesstrafen überhaupt von den Medien aufgegriffen oder werden sie totgeschwiegen? (Das könnte sich nach der Annahme des Gesetzes punkto der Veröffentlichung vertraulicher Informationen der Regierung ja noch ändern…)
    Wie auch immer – nach dem Informieren müssen sich dann auch noch genügend Leute mobilisieren…
    Und ich kann da nur hoffen. Egal ob die Todesstrafe “richtig oder falsch” ist… Sie lässt Japan (in meinen Augen) sehr, sehr unattraktiv erscheinen.

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