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Warum Japan Corona nie richtig in den Griff bekommen wird

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Sicher, die Zahlen sind seit rund zwei Wochen wieder rückläufig – die 2. Corona-Welle war jedoch deutlich ausgeprägter als die 1. Welle im April, als die Regierung den Ausnahmezustand verhängte. Im April gab es bis zu 720 neue Fälle landesweit pro Tag, im August bis über 1,600. Aber das muss natürlich auch im Zusammenhang gesehen werden, denn heutzutage wird mehr getestet, und man hat inzwischen auch an Therapieerfahrung gewonnen, so dass die medizinische Versorgung etwas weniger chaotisch erscheint. Und, auch das ist wichtig, bei der 2. Welle war der Altersdurchschnitt wesentlich geringer, und damit auch die Zahl der schweren Verläufe und Todesfälle.

Corona-Neuinfektionen in Japan von März bis August 2020 (Quelle: Yahoo! Japan)

Trotz der deutlich höheren Fälle macht die Regierung jedoch keine Anzeichen, erneut den Ausnahmezustand auszurufen, und damit ist man sich mit vielen anderen Ländern einig. Dabei hatte Japan ja noch nicht einmal einen richtigen Lockdown. Japan steht trotzdem im internationalen Vergleich sehr gut da – im ostasiatischen Vergleich jedoch ist es weniger rosig bestellt, denn dort haben andere Länder wie Taiwan oder Vietnam, möglicherweise auch die VR China höhere Erfolge aufzuweisen. Eigentlich ist das seltsam, denn Japan erfüllt mehrere Bedingungen, die einer schnellen Verbreitung des Virus entgegenwirken sollten:

  • die allgemeine Bereitschaft, Masken zu tragen
  • die Etikette – zum Beispiel, nicht laut in der Öffentlichkeit zu reden
  • der Desinfektionswahn, den es schon lange vor Corona gab

um nur einige zu nennen. Und dennoch wird man es unter den gegebenen Bedingungen nicht schaffen, Corona in den Griff zu bekommen. Der Grund dafür ist soziokultureller Natur und, direkt damit verbunden, die in Japan traditionelle Stigmatisierung. Letztere ist leider kein neues Phänomen: So wurden und werden auch die Strahlenopfer der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki, die an der Umweltkrankheit Minamata-Syndrom Leidenden, oder die aus der weiteren Gegend des explodierten AKW in Fukushima Stammenden stigmatisiert. Das ging und geht sogar soweit, dass Firmen und potentielle Brauteltern Recherchen anstellen, um sicherzugehen, dass das Subjekt der Recherche nicht etwa aus Ostfukushima oder Minamata stammt. Nicht wenige an Corona-Erkrankte haben bereits ebenso über Stigmatisierung geklagt.

Was passiert, wenn man in Japan positiv getestet wird? Eine Coronaeinsatztruppe versucht anhand von Gesprächen zu konstruieren, wo sich der Infizierte in letzter Zeit aufgehalten hat, um mögliche Cluster ausfindig zu machen. War der Patient zum Beispiel in der Bar XYZ, und hat am nächsten Tag bei seiner Arbeit für Firma A einen Kunden der Firma B getroffen, dann werden eben A, B und XYZ informiert, was nun bedeutet, dass der Patient einen Riesenaufwand, und nicht selten auch finanziellen Schaden, für A, B und XYZ verursacht. Und wenn man in Japan eines versucht zu vermeiden, dann ist es, anderen irgendwie zur Last zu fallen. Aus dem Grund haben die meisten Menschen in Japan weniger Angst vor der Krankheit selbst, sondern mehr vor dem Aufwand, den sie verursachen, und der möglicherweise folgenden Stigmatisierung durch das Umfeld. Was wird also passieren, wenn ein im Leben stehender, arbeitstätiger Japaner Erkältungssymptome und möglicherweise auch Fieber entwickelt? Er oder sie wird erstmal zur handelsüblichen Erkältungsmedizin greifen und versuchen, die Symptome zu unterdrücken und/oder zu vertuschen. Das kommt dem Virus natürlich sehr gelegen. Doch selbst wenn der Betroffene aus Sorge um sich und die Umgebung beschliesst, lieber auf Nummer sicher zu gehen, wird es schwer: Sehr viele kleine Arztpraxen versuchen alles, um Menschen mit Corona-Symptomen, und sei es eine laufende Nase, auf Distanz zu halten. Entweder kann man mit dem Arzt nur am Telefon sprechen, oder man wird sofort abgewimmelt und angewiesen, ein grosses Krankenhaus aufzusuchen, wo man dann mit etwas Glück einen PCR-Test genehmigt bekommt. Wird der nicht genehmigt, kann man den in ausgewählten Praxen dennoch machen lassen (das ist immerhin ein Fortschritt), doch der Test kostet dann eben mal rund 25,000 Yen, also ca. 200 Euro.

Leider sehe ich momentan nicht, wie sich das in Japan ändern lassen kann oder ändern wird. Erst wenn allen klar wird, dass Corona jeden treffen kann, ob man nun unvorsichtig war oder nicht, könnte sich vielleicht etwas ändern, doch der Hang zur Stigmatisierung ist so tief in der Gesellschaft verankert, dass ich kaum Hoffnung habe. Dass es jedoch immer noch so schwer ist, sich in Japan ordentlich testen zu lassen, halte ich für einen Skandal, und schaue dabei sehr neidisch auf Länder, die das ermöglichen.

tabibito
tabibitohttps://japan-almanach.de
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

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