Blog960 Tage-Hatz beendet: Lindsay-Mörder gefasst?

960 Tage-Hatz beendet: Lindsay-Mörder gefasst?

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Heute nachmittag brach medientechnisch die Hölle los: Tatsuya Ichihashi war von der Polizei gefasst worden, und zwar in Osaka. Wer ist Ichihashi? Rückblende:
Im März 2007 wurde die damals 22-jährige Englischlehrerin Lindsay Hawker, angestellt bei der damals grössten (und jetzt bankrotten) Sprachschulgruppe Nova und wohnhaft in 市川 Ichikawa (Chiba), von Freunden als vermisst gemeldet. Bei ihren Sachen findet man eine auf einem Zettel gekritzelte Telefonnummer. Die gehört besagtem Ichihashi. Die Polizei fuhr also zu dessen Wohnung – doch während der Befragung springt der damals 28-jährige barfuss aus seiner Wohnung und flieht.
Kurze Zeit später findet man auf dem Balkon seiner Wohnung eine Badewanne – gefüllt mit Gartenerde und der nackten, gefesselten Leiche von Lindsay. Nun begann eine beispiellose Suche: Ein 140-Mann starkes Polizeiteam beschäftigte sich mit dem Fall. Es wurden zahllose Fahndungsplakate gedruckt – unter anderem mit Bildern, wie Ichihashi wohl aussehen würde, wenn er sich die Haare gefärbt oder als Frau verkleidet hätte usw. Die Eltern kamen eigens aus England nach Japan und traten auch vor die Presse – um sich über die schlampige Polizeiarbeit zu beschweren. Dieses Jahr wurde das Kopfgeld auf bisher einmalige 10 Millionen Yen erhöht – das sind um die 70,000 Euro.
Im vergangenen Jahr hiess es lapidar von der Polizei, dass “der Mann bestimmt bereits Selbstmord begangen habe und deshalb nicht zu finden sei” (siehe u.a. hier). Das wurde natürlich von den Eltern angeprangert, zumal ja in Japan nachwievor selbst Mord verjährt.
Während der letzten Tage gab es jedoch plötzlich Bewegung: Ein Schönheitschirurg in Nagoya gab an, dass sich der Verdächtige bei ihm Muttermale entfernen und die Nase verändern liess. Ein neues Fahndungsfoto wurde erstellt. Kollegen einer Baufirma in Osaka stellten fest, dass sie über ein Jahr mit dem Mann gearbeitet hatten – bis vergangenen Monat. Auch in Fukuoka war er gesichtet worden. Heute wurde er also entdeckt – gemeldet von einem Angestellten einer Fährgesellschaft: Er wollte nach Okinawa.
Fahndungsplakat

Was die Polizei danach jedoch machte, wird mir ein Rätsel bleiben: Sie schaffte den Verdächtigen heute abend in einem normalen Shinkansen nach Tokyo. Das weiss natürlich die Presse, und so versammelten sich hunderte Presseleute am Shinkansen und am Bahnhof. Momentan wird Ichibashi zur Polizeiwache Gyōtoku gebracht, und er müsste bald da sein: Gyōtoku liegt drei Kilometer von mir entfernt, und gerade flog ein Pressehubschrauber ca. 100 m von meinem Haus entfernt vorbei (wir liegen auf dem Weg). Warum die Polizei ihn nicht mit Hubschrauber oder Sonderwagen bringt – oder statt im Bahnhof Tokyo nicht bereits in Shinagawa aus dem Zug holt, ist mir schleierhaft.
Wie auch immer – mit Ruhm hat sich hier die japanische Polizei nicht gerade bekleckert: Inmitten des Ballungsgebietes Tokyo, in einer dicht besiedelten Wohngegend, flieht ein Verdächtiger barfuss vor der Polizei – und lebt danach unbehelligt in verschiedenen Orten des Landes, und das beinahe 1’000 Tage lang. Dieser Fall dürfte hierzulande noch hohe Wellen schlagen.
Im Übrigen wird der Mann nicht wegen Mordes gesucht, sondern wegen 死体遺棄容疑 – shitai iki hōgi – Verdacht des Zurücklassens einer Leiche. Und das war auch das Wort des Tages. Kein schönes zwar, aber das sieht man sehr oft in Presse- und Polizeimeldungen.

tabibito
tabibitohttps://japan-almanach.de
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

9 Kommentare

  1. “Verdacht des Zurücklassens einer Leiche”
    Hust, was ist das denn für eine Straftat? Wahrscheinlich in etwa so geahndet wie Müll auf den Boden zu werfen? Zumindest klingt es so…

  2. Das ist ja der Wahnsinn!! Seit ich die Pressekonferenz mit den Eltern gesehen habe, habe ich mich immer gefragt was aus dem Fall geworden ist…
    Die armen Eltern taten (und tun es immer noch) mir unendlich leid…

  3. Ich hatte ja schon extra Ausschau gehalten, das Lösegeld hätte ich gut gebrauchen können^^’
    Aber gut, daß der Kunde (endlich) erwischt wurde.

  4. @Stefan, Marcus,

    Ich denke mal, das ist eine juristische Sache – da ihm der Mord noch nicht zweifelsfrei (!?) nachgewiesen werden konnte, wird er halt wegen dem Paragraphen gesucht. Hat mich beim ersten Mal jedenfalls auch gewundert – aber das kann wahrscheinlich nur ein Jurist erklären, der sich im japanischen Recht auskennt.

    @Anna
    Wessen Eltern meinst Du? Die Eltern des Angeklagten tun mir jedenfalls auch sehr leid – und ich bewundere ihren Mut, trotz allem mit der Presse zu reden (und zwar auf sehr vernünftige Art und Weise)

    @Wakaranu
    Angeblich wurde er ja auch in meiner Stadt gesichtet. Ist jedenfalls schon ein hübsches Sümmchen.

  5. Für mich klingt Zurücklassen einer Leiche übertragen wie so ein Sammelbegriff zum Tode führender Delikte, was dann noch im Detail spezifiziert werden muß. Aber ich bin nicht wirklich ein Jurist…
    Wir haben hier nicht zufällig wen, der sich mit japanischem Recht auskennt?

  6. @Tabibito
    Ich meinte damit die Eltern der Frau, weil ich deren Pressekonferenz gesehen hatte und mir das damals ziemlich nahe gegangen war. Seine Eltern tun mir natürlich auch sehr leid.
    Kommt mir das nur so vor oder kommen ähnliche Fälle (d.h. durch psychische Störungen bedingte Morde, Übergriffe, Amokläufe) in den letzten Jahren in Japan immer häufiger vor? Oder wird das nur von den Medien hochgepusht und es war früher auch nicht anders? Oft habe ich in solchen Zusammenhängen Japaner (ab 50+) klagen hören, dass die junge Generation ja nicht ganz bei Trost sei und sie besorgt seien, weil es immer mehr von solchen Fällen gibt. Würd mich mal interessieren ob es dazu auch irgendwelche Zahlen gibt die das belegen.

  7. Nun, es ist Japan. Er wird jetzt erstmal 23 Tage ohne Beisein seines Anwalts verhört werden – und dabei nicht gerade milde angefaßt werden – und dann gestehen. Und dann verurteilt werden.
    Ob das gut oder schlecht ist, sei dahingestellt. Ist halt so in Japan.

    Nicht, daß das jetzt falsch verstanden wird: Ich hege selbstverständlich keine Sympathie für einen niederträchtigen Mörder, der sich an einer Frau vergeht.

    Aber es ist halt völlig egal, weswegen sie ihn jetzt verhaftet haben.

  8. Die Meldung hat nun auch in der deutschen Medienwelt Einzug gehalten. Gibt es überall, immer wieder und gerne auch bei den Kapitaldelikten. Jemand begeht eine Straftat und wird erst Jahre später gefasst.

    Das Zurücklassen einer Leiche ist bereits zweifelsfrei nachgewiesen, so dass deswegen gefahndet werden darf. Allerdings würde hierzulande auch gleich wegen des Verdachts der Begehung eines Tötungsdeliktes gefahndet werden. Ob dies dann nachgewiesen werden kann, spielt bei der Fahndung keine Rolle.

    Da hier jedoch ein Rekordbelohnungsgeld ausgereicht wurde, kann man davon ausgehen, dass auch die Polizei den Herren entsprechend verdächtigt. Das Überführungsritual kann ich mir persönlich nur als Eindruckschinden vor der Öffentlichkeit und auch dem Beschuldigten erklären. Würde hier nicht passieren, eher im Gegenteil – Persönlichlkeitsschutz der Straftäter.

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