BlogZwei Tage Kyōto, ein Erdbeben und ein Taifun

Zwei Tage Kyōto, ein Erdbeben und ein Taifun

-

Am Sonntag morgen ging es nach Kyōto – mit dem ersten Shinkansen des Tages, morgens um 6:00 Uhr. Nein, nicht zur Verlustierung, sondern zur Arbeit: In Kyōto stand der erste “Extensive Reading World Congress” an (ja, sowas gibt es auch), mit zahlreichen illustren Figuren aus der “Szene”. Und was kann ein Sonntag schon bringen, der morgens um 4:30 mit dem Aufstehen beginnt? Ein paar Minuten vor Abfahrt stieg ich in den Shinkansen ein. Wie immer gab es eine lange Lautsprecheransage auf Japanisch und Englisch, damit die Zugreisenden gewarnt seien, wo der Zug überall halten wird und wo die armen Raucher eigentlich noch rauchen dürfen usw. usf. 5:55 begann der Zug bedächtig vor sich hin zu wackeln. Ohne loszufahren. Es fuhr auch nichts vorbei. Die Lautsprecheransage endete abrupt, und die Passagiere und Leute auf dem Bahnsteig schauten sich etwas verdutzt an. Alle hatten den gleichen Gedanken, da bin ich mir sicher: “Ist das ein Erdbeben oder bilde ich mir das nur ein?” Nein, es war eindeutig ein Erdbeben, Stärke 4.7 und unmittelbar bei Tokyo. Egal, jetzt bloss nicht verwirren lassen.
Eine Stunde nach Abfahrt, hinter Shin-Fuji, wurde das Wetter interessant: Wir fuhren in die Ausläufer von Taifun Nr. 12 hinein. Der Shinkansen bremste ab, und man sah stellenweise draussen rein gar nichts mehr. Trotzdem ging es bald mit 320 km/h weiter. Und es gab ellenlange Entschuldigungen vor Kyoto – aufgrund der widrigen Witterungsverhältnisse hätte man leider 2 Minuten Verspätung – “お忙しいところ申し訳ございませんでした” – “Gerade wo Sie es doch so eilig haben, fällt uns keine passende Entschuldigung ein”: Nein, das ist keine blühende Phantasie, sondern schlichte, sehr gebräuchliche Höflichkeitssprache in der Demutsform.
Kyōto? Da war doch was. Ach ja, Tempel, Kultur, viel zu sehen. Bei Taifun – Regen. Bei einer Konferenz: Regen, von innen betrachtet, in einer wunderschönen Universität weitab vom Geschehen.
Nein, keine Pointe in dieser Geschichte. Taifun Nr. 12 war übrigens etwas aussergewöhnlich: Bis vor einer Woche sah es so aus, als ob er direkt auf Tokyo treffen sollte. Dank eines Hochs östlich von Japan wurde er jedoch plötzlich nach Westen gedrückt. “Dank” ist hier aus der Perspektive der Hauptstädter zu sehen. Zwar wurde der Taifun zunehmend schwächer, aber er war allein von der Grösse her zu einem Monster herangewachsen. Wie so oft war nicht der Wind verheerend, sondern die Regenmengen, die vor allem auf dem Land in den Bergen regelmässig ganze Weiler durch Schlammlawinen verschütten. Ergebnis soweit: 37 Tote, 55 Vermisste. Die Opferzahlen steigen stündlich.
Ach ja: Das mit den Taifunbezeichnungen ist so eine Sache. Die von Taifunen betroffenen Pazifikanrainer haben sich auf eine Liste von insgesamt 140 Namen geeinigt: Jedes Land durfte dabei eigene Namen einbringen, selbst Hongkong und Makao. Erreicht ein Taifun eine gewisse Grösse, wird ein Name aus der Liste gewählt. Ist die Liste erschöpft, wird wieder von vorn begonnen. Taifune können Japan übrigens jederzeit heimsuchen – selbst im Winter. Taifunsaison ist allerdings die Zeit zwischen Juni und Oktober, mit der Spitzenzeit im Frühherbst.

tabibito
tabibitohttps://japan-almanach.de
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

1 Kommentar

  1. Wenn ich den Wettermenschen auf NHK richtig verstanden habe, dann war es wirklich eine außergewöhnliche Situation. Zwei Hochdruckgebiete haben #12 scheinbar so stark abgebremst, dass dieser erhebliche Menge an Regen über Kansai abregnen lassen konnte. Ich bin übrigens, aus Sicht eines Kyushu Einwohners, froh, dass #12 nicht noch weiter auf Westen abgedreht hat. So ist es hier unten in Fukuoka nur bei ein bisschen Wind und Nieselregen geblieben.
    Ich musste dennoch beruhigende Anrufe in die Heimat tätigen.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Neueste Beiträge

Auch mal was von anderen Inseln

Die meisten Leser dieses Blogs besuchen den Japan-Almanach sicherlich, da es hier, wer hätte es gedacht, hauptsächlich um Japan...

Nur noch jeder sechste der einst reisefreudigen Japaner besitzt einen Reisepass

Eigentlich waren die Japaner lange Zeit ein sehr reiselustiges Völkchen –– man traf überall auf Japaner, egal ob in...

Weltrekordhalter als längster Todestraktinsasse endlich freigesprochen

Eigentlich ist es unglaublich und einfach nur traurig, dass ich nach 10 Jahren schon wieder einen Artikel über Hakamata...

Lass’ sie rudern | Endlich unter 20 Grad

Zwei Montage in Folge frei — der September hat in Japan durchaus seine erfreulichen Seiten. Und wenn das Wetter...

“Shogun”-Neuverfilmung: In Japan weitgehend unbekannte Schauspieler gewinnen Emmy

Am vergangenen Wochenende wurden in Los Angeles die Creative Arts Emmys vergeben, und bereits im Vorfeld war klar, dass...

Ramen Sugimoto (らぁ麺 すぎ本) in Aoba-ku, Yokohama

Ramen auf Salz- und Soyasaucenbasis — mit selbstgemachten, dünnen Nudeln und viel Beilage. Besser viel Appetit mitbringen!

Must read

Die 10 beliebtesten Reiseziele in Japan

Im Mai 2017 erfolgte auf dem Japan-Blog dieser Webseite...

Auch lesenswertRELATED
Recommended to you