Heute verkündete das Oberste Gericht von Osaka ein interessantes Urteil zum Thema Vollstreckung der Todesstrafe1. Geklagt hatten zwei zum Tode Verurteilte, denn sie sind der Meinung, dass die gängige Praxis, Delinquenten erst ein bis zwei Stunden vor der Exekution die selbige zu verkünden, nicht verfassungskonform sei. Genauer gesagt forderten die Anwälte der Insassen das Gericht auf, dass es “gesetzlich keine Pflicht seitens der Insassen gebe, die momentane Praxis tolerieren zu müssen, da sie enormen psychischen Druck aufbauen würde”.
Die Klage ist verständlich. Denn wer in Japan zum Tode verurteilt wird, kommt erstmal in Einzelhaft und hat so gut wie überhaupt keine Rechte zu irgendetwas. Die Insassen kommen nicht in einem normalen Gefängnis unter – im Sinne einer Institution, in der man die Häftlinge auf ein Leben nach Verbüßen der Strafe vorbereitet – sondern in gesonderten Verwahrsam. Sie dürfen also nicht arbeiten, haben so gut wie keinerlei Kontakte zu anderen Insassen, keine Sportgelegenheiten mit anderen Häftlingen oder ähnliches. Im Prinzip vegetieren sie in Zellen dahin – in denen pausenlos Licht brennt, mit einem strengen Rhythmus was Aufstehen, Mahlzeiten, Badezeiten und dergleichen angeht. Das kann sich über mehrere Jahrzehnte hinziehen. Und in all dieser Zeit kann es quasi jederzeit passieren, dass jemand an die Zellentür tritt und verkündet: “In einer Stunde ist es soweit”.
Hier hört man von Japanern schnell den Einwurf “das haben Todesstrafenkandidaten ja auch nicht anders verdient”, doch wie das Beispiel des erst im vergangenen Jahr endgültig freigesprochenen Hakamata zeigte, trifft es mitunter auch Unschuldige.
Das Bezirksgericht von Osaka urteilte in erster Instanz, dass es mit der gängigen Praxis kein Problem gebe – man könne keine Relevanz zu irgendwelchen Gesetzen erkennen, die das möglicherweise verbieten würden. Außerdem habe die Praxis ihre Gründe, gab es doch Fälle in der Vergangenheit, in der sich Häftlinge kurz vor der Exekution mittels Selbstmord vor der Strafe drückten. Die Klage wurde damit abgewiesen, ebenso eine Klage auf Schadensersatz aufgrund psyschischer Belastung. Die Anwälte gingen in Berufung – doch die zweite Instanz drückte sich nun interessanterweise vor einem Urteil. Der Antrag auf Schadensersatz wurde zwar wie von der ersten Instanz abgewiesen, doch das Oberste Gericht beauftragte nun die erste Instanz, noch einmal die Rechtmäßigkeit der gängigen Praxis zu überprüfen.
Die momentane Praxis wird seit Jahrzehnten von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International angeprangert – die mitunter jahrzehntelange Ungewissheit gilt als besonders grausam. Hinzu kommt die absolute Unberechenbarkeit, denn die Vollstreckung geschieht allein aus Gutdünken des aktuellen Justizministers. In den 2010er Jahren zum Beispiel wurden mehrere Jahre lang rund 3 zum Tode Verurteilte pro Jahr hingerichtet – 2018 jedoch waren es plötzlich 15 Exekutionen in 12 Monaten. Die letzte Hinrichtung fand im Juli 2022 statt – seit drei Jahren wurde also niemand mehr hingerichtet, was die Zahl der Todestraktinsassen auf 108 anstiegen liess.
Der Hiatus bedeutet nicht, dass hier ein Umdenken hin zur Abschaffung der Todesstrafe in Japan stattfindet: Im Gegenteil, die Todesstrafe hat noch immer breiten gesellschaftlichen Konsens.
- siehe hier
Weißt du, wie die Gerichtsfolge in Japan bei solchen Grundsatzthemen ist?
Wenn ich das auf Deutschland übertragen würde, dann ist es – gefährliches Halbwissen! – glaub so, dass normale Gerichte eigentlich auch nur bestehende Rechtslage beurteilen sollen. Wenn der Richter aber Bedenken hat, ob ein Gesetz selbst verfassungskonform ist, dann kann er das Verfahren aussetzen und erstmal das Bundesverfassungsgericht fragen, ob das Gesetz denn verfassungskonform ist (Stichworte: Richtervorlage, konkrete Normenkontrolle).