BlogDie Rutsche des Todes

Die Rutsche des Todes

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Satellitenbild der Rutsche bei Google Earth
Satellitenbild der Rutsche bei Google Earth
In der Mitte meiner Stadt gibt es einen rechteckigen Park. Mitten im – für japanische Verhältnisse sehr grünem – Park thront der Urayasu-no-fujisan – der Fujiyama von Urayasu. Mit seinen schwindelerregenden 14 Metern wird jener allerdings gut von den herumlümmelnden Bäumen versteckt. Fuji-san wird er in Ermangelung höherer „Berge“ in der Stadt genannt. Es ist tatsächlich die höchste Erhebung der Stadt, und dabei ist selbst dieser „Berg“ nicht natürlich, denn vor 60 Jahren befand sich hier noch die Bucht von Tokyo. Neben dem Park gibt es Tennisplätze und ein Baseballfeld. Das Erdbeben hatte dem Park vor zwei Jahren stark zugesetzt – die Sportstätten und Kinderspielplätze waren dadurch unbrauchbar geworden, und es dauerte insgesamt gut zwei Jahre, alles wieder halbwegs herzustellen. Ein seltsames Bauwerk trotzte allerdings dem Beben: Ein Monstrum von Rutsche, gebaut aus Beton und weiß getüncht. Mindestens fünf Meter (so etwas ist immer schwer zu schätzen) war sie hoch, und in zwei Etappen ging es wieder herunter. Tückisch war sie: Bei „normalem“ Wetter konnte man in normaler Geschwindigkeit herunterrutschen, was vielen Kindern nicht schnell genug war. Sie brachten Karton mit, um schneller herunterzurauschen. Bei spezieller Wetterlage hingegen – wenn es sehr trocken war und nicht ganz so warm – wurde die Rutsche wahnsinnig schnell. Ich kann ein leidvolles Lied davon singen. Eines Tages rutschte ich mit meiner damals noch keine 2 Jahre alten Tochter herunter und erreichte dabei eine solche Geschwindigkeit, dass ich mit einem Körperteil aufsetzte, mit dem man nach einem 10-Meter-Rutsch mit Karacho vorzugsweise nicht aufsetzen möchte. Aber Hauptsache Kind hatte seinen Spaß. Sitzen war für den Erziehungsberechtigten allerdings erst nach ein paar Stunden wieder drin.
Historisches Photo: Oberer Teil der Rutsche.
Historisches Photo: Oberer Teil der Rutsche.

Doch ach – vor gut einer Woche war das weiße Ungetüm urplötzlich verschwunden. Weg. Wie vom Erdboden verschluckt. Dabei hatte sie selbst dem Erdbeben standgehalten. Sofort hatte ich statische Gründe im Sinn. Vielleicht hat sich ein Statiker die Rutsche angesehen und festgestellt, dass sie doch einen Knacks bekommen hatte? Oder war ein Kind heruntergefallen? Bei der Höhe, trotz Gitterstäben im oberen Bereich, nicht undenkbar und durchaus halsbrecherisch. A propos Hals: Der Grund schien ein anderer zu sein. Laut diverser Anwohner (einige kennen wir persönlich) kam es mehrfach vor, dass sich Menschen an der Rutsche erhängt haben. Eine Vorstellung, die mir eine Gänsehaut beschert. In der Nacht hängen sich Leute an der Rutsche auf, am Tag spielen die Kinder dort fröhlich. Musste man sie deshalb abreissen? Verhindert man so Selbstmorde? Ganz sicher nicht. Andererseits: Man möchte mit seinem Kind ganz sicher nicht einen solchen Anblick erleben. Und doch bricht es mir ein bisschen das Herz, dass Kinderspielzeug verschwinden muss, damit Erwachsene sich dort nicht das Leben nehmen.

tabibito
tabibitohttps://japan-almanach.de
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

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