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Was der Atombombendom für Westjapan.. ist ein Trafohäuschen für Ostjapan?

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Wochenende, schönes Wetter. Die Kinder haben eigene Pläne und wir haben ein bisschen Zeit für einen kleineren Ausflug. Es ist mein erklärtes Ziel, alle Verwaltungseinheiten von Tokyo mindestens einmal zu besuchen (und später auf dieser Webseite vorzustellen). Und es gibt noch tatsächlich ein paar weniger bekannte Orte im Westen Tokyos, in die man sich normalerweise nicht verirrt, die ich entweder noch nicht besucht habe – oder keine brauchbaren Fotos zur Hand habe. Higashiyamato-shi gehört zum Beispiel dazu. Bei einem kurzen Blick auf die Karte fiel mir eine “Sehenswürdigkeit” auf – ein Trafohaus der ehemaligen Hitachi-Flugzeugwerke, heute ein denkmalgeschütztes Gebäude aus der Kriegszeit.

Aus der Kriegszeit? Das ist bemerkenswert. Denn obwohl Tokyo sowie dutzende weiterer Städte (die Amerikaner erstellten eine Liste der 180 größten japanischen Städte, welche sie zu zerbomben gedachten, und arbeiteten diese nach und nach ab – der Krieg war jedoch vor Beendigung der Liste zu Ende) im 2. Weltkrieg nahezu komplett zerstört wurden, gibt es kaum Ruinen, die den Schrecken der Bombenangriffe bezeugen. Eigentlich ist in dieser Hinsicht der Atombombendom in Hiroshima das einzige wirklich bekannte Beispiel. Alles andere wurde flugs nach Kriegsende abgerissen und neu aufgebaut. In der Provinz gibt es hier und da noch Ruinen, doch die wurden nicht zerbombt, sondern zerfielen einfach nach und nach.

Das alte Trafohaus der Hitachi-Flugzeugwerke in Higashiyamato
Das alte Trafohaus der Hitachi-Flugzeugwerke in Higashiyamato
Die Schilder stammen noch aus den 1940ern
Die Schilder stammen noch aus den 1940ern

Wir näherten uns also dem Park, in dessen Mitte das Trafohäuschen steht. Es ist in der Tat nicht zu übersehen, hat der graue Bau doch zahlreiche, gut sichtbare Einschusslöcher. Für mich ist das nichts Exotisches: Aufgewachsen im Osten Deutschland, waren Einschusslöcher in den baufälligen, historischen Bereichen der Innenstädte die Regel, und Dresden sah bis in die 1980er so aus, als ob es erst am Vortag zerbombt wurde. Der Anblick war mir auch aus Mostar (Bosnien) oder Vukovar (Kroatien) bekannt. In Japan ist er jedoch absolut ungewohnt. Das Haus sah also schon eindrucksvoll aus – und es hatte sogar geöffnet: Auf einem großen Banner stand, dass man mittwochs und sonntags von 10:30 bis 16 Uhr in das Haus kann. Gesagt, getan. Eintritt wird nicht verlangt, und im Haus schwirren ein paar von der Stadt engagierte Senioren herum, die sich sofort den Besuchern nähern und freundlich fragen, ob sie erklären sollen, was man hier sieht. Spoiler Alert: Wenn ein japanischer Rentner fragt, ob man etwas Zeit hat, sollte man dies nur mit “ja” beantworten, wenn man wirklich Zeit hat. Ich schaue meine Frau an: Haben wir Zeit? Haben wir. Ich sage ihm: “Da hole ich lieber eine Erlaubnis ein, sonst kann es später kompliziert werden”. Er nickt lachend: “Ist bei mir auch so”. Er fragt, ob er auf Englisch oder Japanisch erklären soll – Japanisch bitte. Und er zögert auch nicht, das gleich zu testen. Nach kurzen Erläuterungen empfiehlt er uns, einen zehn Minuten langen Film anzusehen. Der Titel ist bereits eingeblendet – er fragt mich, ob ich Japanisch auch lesen kann. Ich sage ja – und er fragt mich prompt, was da auf dem Bildschirm steht. Das ganze soll so weitergehen. Offensichtlich sind wir da an einen ehemaligen Lehrer geraten – und an einen Kommunisten, denn er erklärte mir, dass er in Deutschland einst das Grab von Rosa Luxemburg besucht hatte.

Auch meine Frau bleibt nicht verschont. Er hat eine Mappe mit historischen Dokumenten dabei und fordert gelegentlich meine Frau auf, eine Passage laut vorzulesen. Das war manchmal leichter gesagt als getan – da tauchten dann nämlich Wörter wie 大體 auf – das zweite Schriftzeichen ist ein altes Zeichen und wird heute “体” geschrieben – viele Japaner können mit der alten Version nichts anfangen. Ich hatte da dank Vorkenntnisse im Chinesischen etwas mehr Glück: Zeichen wie 壓 (heute 圧 geschrieben) oder 變 (heute 変 geschrieben) kenne ich zufälligerweise noch. Das ganze entwickelt sich ohnehin zu einer regelrechten Quizshow: So sollen wir überlegen, warum manche Einschusslöcher größer sind als die anderen, oder warum es auf der Rückseite des Hauses kaum Einschusslöcher gibt. Immerhin gestaltet er das ganze so sehr unterhaltsam – und zum ersten Mal seit langem haben wir wieder das Gefühl, zur Schule zu gehen.

Im Inneren wurde alles so belassen wie es nach dem Angriff war
Im Inneren wurde alles so belassen wie es nach dem Angriff war
Das gilt auch für die elektrischen Anlagen, die immerhin bis 1993 benutzt wurden
Das gilt auch für die elektrischen Anlagen, die immerhin bis 1993 benutzt wurden

Doch worum geht es hier eigentlich? In der Gegend von Higashiyamato gab es vor 80 Jahren eigentlich nur Felder, ein paar Bauernhäuser – sowie hier und da ein paar Fabriken. Dazu gehörten auch die Flugzeugwerke von Hitachi, in denen Motoren gebaut und Flugzeuge zusammengesetzt wurden. Dort arbeiteten während des Krieges immerhin rund 12’000 Menschen. Neben den Werken gab es einen kleinen Flugplatz sowie einen kleinen Armeestützpunkt. Die Fabrik wurde 1945 drei Mal Ziel von Luftangriffen – beim ersten und dritten Mal warfen B-29 Bomber ihre Last ab, wobei beim ersten Angriff 78 Arbeiter und beim dritten Angriff 28 Arbeiter, manche von ihnen kaum älter als 14 Jahre, ums Leben kamen. Der zweite Angriff erfolgte durch Mustang P51 – kleine Jagdflugzeuge, die im Tiefflug auf alles schossen, was sich bewegte. Die Einschusslöcher im Trafohaus, einige Projektile durchschlugen sogar das solide Mauerwerk, stammen alle von besagten Mustangs.

Interessant waren die historischen Unterlagen, die uns der Rentner zeigte: Dazu gehörten kleine Heftchen mit Instruktionen für die Arbeiter: Diese sollten auch bei Bombenalarm auf keinen Fall die Produktionsstätten verlassen, um die Produktion nicht lahmzulegen. Doch daran hielten sich die Arbeiter nicht: Sie rannten nach draussen, in nahegelegene Wälder. Die Amerikaner wussten das und verfassten darüber einen Bericht. Und die Japaner kannten diese Berichte und übersetzten sie wiederum ins Japanische, um entsprechende Maßnahmen zu treffen.

Der Mann zeigte auch Unterlagen von dem Tag, an dem die Mustangs angriffen: Im Bericht des Krankenhauses vom Tag des Angriffs taucht der gleiche Familienname zwei Mal auf: Eine Frau in den 20ern, in der Brust von einem Projektil getroffen und daran gestorben, und ein dreijähriger Junge, ebenfalls durch einen Schuss in die Brust tödlich getroffen. Das lässt darauf schliessen, dass die Mutter ihr Kind trug, als sie tödlich getroffen wurden – sehr wahrscheinlich durch besagte Mustangs, denn amerikanische Bodentruppen gab es ja nicht. Im Gegensatz dazu der ebenfalls vorliegende Einsatzbericht der Mustangs, in dem aufgelistet wurde, worauf geschossen wurde: “Ansammlungen feindlicher Truppen”. Von Zivilisten ist hier keine Rede – aber das ist es eben, was Kriege ausmacht.

Die Privattour dauerte letztendlich 90 Minuten – und es war sehr lehrreich. Die akribische Aufarbeitung dessen, was damals vor sich ging, war hochinteressant, ebenso die Art und Weise, wie die japanische Gesellschaft in der Zeit des Krieges funktionierte. Das erinnerte mich an einen lapidaren Kommentar meines Schwiegervaters vor vielen Jahren: Japaner sollten nicht so sehr die Nase über Nordkorea rümpfen, schließlich war Japan bis 1945 genau gleich.

Die Trafostation war bis 1993 in Betrieb – einige Umspannanlagen im Inneren, komplett mit Einschusslöchern, wurden ebenfalls bis dahin benutzt. Erst 2001 wurde das Häuschen halbwegs restauriert und in ein Museum umgewandelt. Die Fabrikanlagen sind seit langem verschwunden – stattdessen gibt es hier nun einen grünen Park, eingeschlossen von Wohnanlagen, mit Kindern, die vor dem zerschossenen Gebäude Ball spielen. Ein eindrucksvolles Denkmal, dass auf jeden Fall erhalten werden sollte.

Wer Interesse hat – das Museum befindet sich in 2-167-18 Sakuragaoka, Higashiyamato-shi, Tokyo-to 1

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tabibito
tabibitohttps://japan-almanach.de
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

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