BlogGeschichten aus der Mongolei - Teil 3

Geschichten aus der Mongolei – Teil 3

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Dies ist der dritte und gleichzeitig letzte Teil des Mongolei-Reiseberichtes. Ab dem nächsten Beitrag wird sich wieder alles um Japan drehen. Teil 1 dieses Berichtes befindet sich hier, der zweite Teil hier.
Verabredet war, dass mich der Guide um 8:30 vom Hotel abholt. Vorher musste ich allerdings auschecken, und da hatte ich wirklich Glück, denn ich hatte das Hotel vom 25. bis zum 29. Dezember gebucht – dabei bin ich jedoch bis zum 30. Dezember in der Stadt, und werde nun am 28. Dezember außerhalb übernachten. Das Umbuchen war für das Hotelpersonal überhaupt kein Problem, was allerdings auch daran liegen könnte, dass im Winter kaum Gäste im Hotel übernachten. Ein flüchtiger Blick auf die Frühstücksliste offenbarte, dass es neben mir rund 5 andere Hotelgäste gibt — und das Hotel hat mehrere dutzende Zimmer auf jeder der 5 Etagen.
Kaum habe ich ausgecheckt – so gegen 8:10 – tippt mir jemand auf die Schulter. Hinter mir steht eine rund 35-jährige Frau mit breitem Lächeln und voller Wintermontur und fragt mich, ob ich der bin der ich bin. Bin ich. Und das ist also der Guide. Eine zierliche Mongolin mit deutlich amerikanischem Akzent. Wir machen uns kurz bekannt, und dann geht es zum 6-sitzigen Off-Roader, der vor dem Hotel wartet. Der Fahrer ist ein verschmitzt dreinschauender, rund 50 Jahre alter Mongole, der offensichtlich nicht viel Englisch spricht. Und schon geht es los. Bayaraa, die Führerin, setzt sich neben mich in die zweite Reihe und erklärt munter drauf los. Sie macht das schon lange, aber normalerweise nur im Sommer, da sie im Winter eigentlich selbst auf Achse ist. Und ich merke schnell, dass ich in Sachen Ulan Bator dank des Fahrers vom Vortag schon relativ gut informiert bin. Aber so kann ich dank ihrer sehr guten Englischkenntnisse noch hier und da etwas nachhaken. In einem kurzen Moment der Stille wird mir erstmal bewusst, wie viel Luxus ich gerade im Begriff bin zu genießen. Ich habe Fahrer, Fahrzeug und Führer ganz für mich allein, für zwei volle Tage. Der Spaß kostet mich 450 US-Dollar (darin ist alles, aber auch wirklich alles für die kommenden zwei Tage enthalten – so gesehen ist das kein zu hoher Preis, wenn man den Aufwand bedenkt). Wäre ich mit noch jemandem unterwegs, hätte es mich 330 Dollar gekostet, zu dritt dann noch weniger und so weiter – logisch, denn man würde sich ja alles teilen.
Wir brausen erstmal gen Osten, entlang der transmongolischen Eisenbahntrasse, nach Налайх (Nalaich) – einer Kohlestadt und eines der 9 Distrikte der Hauptstadt. Das etwa 30’000-Einwohner-Städtchen wäre gern unabhängig von der Hauptstadt, um die Stadt selbst verwalten zu können, aber den Gefallen tut ihr die Stadtverwaltung von Ulan Bator nicht. Der Ort ist übrigens berühmt-berüchtigt für illegalen Kohleabbau – und damit einhergehend für eine enorm hohe Anzahl tödlicher Grubenunglücke — mehr dazu siehe hier.

Blick auf das Kohlestädtchen Nalaich
Blick auf das Kohlestädtchen Nalaich

In den Ort selbst fahren wir allerdings nicht – wir biegen kurz davor ab gen Norden. Und wir fahren an einem interessanten Friedhof vorbei – die Hälfte des Friedhofes ist ganz “dünn besiedelt”, die andere ganz dicht. Des Rätsels Lösung: In der dicht besiedelten Sektion liegen ethnische Kasachen – Muslime – begraben, und die bestatten eben anders. Die Nomaden in der Mongolei bevorzugen übrigens auch heute noch die sogenannte Himmelsbestattung: Der Leichnam wird nach einer Zeremonie unter freiem Himmel zurückgelassen. Kümmern sich Geier um den Kadaver (und in der Mongolei gibt es zum Beispiel beeindruckend große Mönchsgeier), dann fährt die Seele gen Himmel. Kümmern sich jedoch Wölfe oder Hunde um den toten Körper, geht es direkt in die Hölle. Das Leben nach dem Tod ist in der Mongolei ein Lotteriespiel.
Oboo am Eingang zum Nationalpark
Oboo am Eingang zum Nationalpark

Nur wenige Kilometer später geht die Straße bergauf und führt direkt in den Горхи-Тэрэлж БЦГ (Gorchi-Tereldsch-Nationalpark) – einem 1993 gegründeten Nationalpark, der im Norden an den Khan Khentii-Nationalpark grenzt – hinter jenem liegt dann bereits die russische Grenze. Am Eingang zum Nationalpark gibt es einen Pass, der zwar nicht sehr hoch liegt, aber es ist trotzdem wesentlich kälter hier. Wie kalt weiss ich leider nicht, denn das Thermometer des Autos für die Außentemperatur misst nur bis -30 Grad – darunter wird ein Fehler angezeigt. Direkt an dem Pass steigen wir aus und laufen zu dem Oboo am Wegesrand – einem großen Steinhaufen, wie es sie zum Beispiel auch in Tibet gibt. Wer auf eine Reise mit gutem Ausgang hofft, soll hier einen Stein ablegen und drei Mal um den Haufen laufen. Leicht gesagt, denn bei dem Schnee findet man nicht ohne weiteres Steine. Es gibt aber auch eine andere Geschichte zu den Oboo: Angeblich legten Soldaten auf dem Weg in den Krieg einen Stein nieder, und nahmen einen Stein mit, wenn sie zurückkehrten. An der Menge der zurückgebliebenen Steine konnte man damit erkennen, wie viele Menschen nicht aus dem Krieg zurückkamen. Schaurig. Auf dem Oboo am Eingang zum Nationalpark lagen außerdem ein paar Opfergaben sowie drei Hunde, die auf Almosen warteten – und von der Führerin, die sich hier natürlich auskennt, auch bekamen.
Der Schildkrötenfelsen im Terelj-Nationalpark
Der Schildkrötenfelsen im Terelj-Nationalpark

Wir steigen wieder ein und fahren talwärts. Nach nicht allzu langer Zeit taucht vor uns ein gewaltiges Granitgebilde auf – der Мэлхий хад (Schildkrötenfelsen), ein rund 15 Meter großes Granitmassiv, das in der Tat eindeutig an eine Schildkröte erinnert. Zumindest, wenn man aus dieser Richtung kommt. Man kann übrigens bis auf den Hals der Schildkröte klettern, aber wenn man den ganzen Weg gehen will, sollte man nicht zu üppig gefrühstückt haben, denn am Ende der Strecke gibt es eine sehr enge Passage, durch die normal große Personen nur unter akrobatischen Verrenkungen durchkriechen können.
Die kurze Kletterei tat jedenfalls gut – Bewegung ist immer gut gegen Kälte. Immerhin ist hier die Luft wesentlich klarer als in und um Ulan Bator, und der Frostnebel lüftet sich auch gerade, so dass man die Umgebung immer besser sehen kann.
Hin und wieder unterhalten sich die Führerin und der Fahrer auf mongolisch. Logisch. Mongolisch schreibt man (fast immer) mit kyrillischen Buchstaben – aber es gibt zwei Buchstaben, die man hinzufügen musste: “Ө” (in etwa: “ö”) und “Y” (in etwa: “ü”). Das bedeutet also, dass ich Mongolisch “lesen” kann. Meine Russischkenntnisse sind zwar eingerostet, aber noch gut genug, um schnell bestätigen zu können, dass Mongolisch außer der Schrift so gut wie nichts mit dem Russischen gemein hat. Kein Wunder – Mongolisch gehört zu einer völlig anderen Sprachfamilie (und zwar zur Uralo-Altaischen – also der Sprachfamilie, zu der auch Koreanisch, Japanisch, Ungarisch, Finnisch usw. gehören). Aus historischen Gründen gibt es allerdings ein paar russische Lehnwörter, wobei man häufig im Mongolischen den letzten Buchstaben weglässt: “Apteka” (Apotheke) ist also “Aptek” im Mongolischen, “fabrika” ist “fabrik”, “maschina” (Auto) ist “maschin” und dergleichen. Es sind allerdings nicht genug Lehnwörter, um mal eben so drauflos zu raten. Mongolisch klingt jedenfalls ziemlich “hart” – mit vielen Frikativlauten (wie das phonetische [x], also das “ch” in “Bach”).
Meditationstempel. Mit Hund.
Meditationstempel. Mit Hund.


Wir fahren ein bisschen weiter und kommen an einem sogenannten Meditationstempel an, den man nach 5 Minuten Treppen steigen und einer Hängebrücke erreicht. Das besondere an diesem Bauwerk: Es sieht sehr alt aus, ist es aber nicht – man hat den ganzen Tempel mit sehr viel Liebe zum Detail vor rund 15 Jahren wiederauferstehen lassen. Die Mongolei bis Ende der 1920er ein klerikaler Staat mit sehr engen Verbindungen zu Tibet. Buddhistische Mönche hatten das Sagen. Die klügsten und oder besten Männer wurden zu buddhistischen Mönchen ausgebildet und, da einem Zölibat unterliegend, quasi dem mongolischen Genpool entzogen. Medizinische Versorgung gab es nicht, und damit war die Kindersterblichkeit extrem hoch und die Lebenserwartung gering. Lag ein Kind im Sterben, sagten die Mönche ihre Sprüche auf, und wenn das Kind tot war, war es eben der Wille der Götter. Doch dann erstarkten die Kommunisten, und die Bolschewiken aus dem Norden verwandelten die Mongolei in den 1930ern in das zweite sozialistische Land auf der Welt. Auf der Strecke blieben zehntausende hingemetzelte Mönche und tausende zerstörte Tempel und Klöster. Doch der Sozialismus bescherte dem Land feste Straßen, eine Eisenbahnlinie, ein Schulwesen, ein Gesundheitswesen, moderne Fabriken, Elektrizität und so weiter. Das Fazit der Führerin: Wären die Russen nicht gewesen, wären die Mongolen wahrscheinlich schon ausgestorben. Und das habe ich bei allen Mongolen, die ich während der kurzen Reise feststellen können: Man liebt die Nachbarn im Norden. Und man hasst die Nachbarn im Süden. Basta. Die meisten Sachen werden zwar dennoch aus China importiert, aber nur deshalb, weil dort alles billiger zu haben ist.
Das mit dem Buddhismus, Schamanismus und dergleichen ist dabei eine spannende Angelegenheit. Ich frage die Führerin irgendwann, ob denn alle mongolische Namen eine Bedeutung hätten. Scheinbar ja, obwohl es durchaus auch etliche tibetanische, russische und andere Namen gibt. Eine alte Praxis scheint man jedoch allmählich einzustellen: Wenn zum Beispiel früher ein Kind sehr jung oder bei der Geburt verstorben war, gab man dem nächsten Kind einen sehr abstoßenden Namen (als Beispiel fiel das Wort “Schlampe”), um die bösen Geister von dem Kind abzulenken. Ob das denn nicht in der Schule für Probleme sorgte, wollte ich daraufhin wissen – und ja, natürlich hatten diese Kinder an solchen Namen schwer zu knabbern.
"Minimarkt" in Terelj
“Minimarkt” in Terelj

Nach fast einer Stunde am Tempel geht es weiter. Überall sieht man Ger-Camps (die Bezeichnung “Jurten-Hotel” passt da wohl am ehesten) sowie mehr oder weniger fertig gebaute Hotels. Terelj ist dank der Nähe zur Hauptstadt die touristischste Ecke weit und breit. Die Sommerfrische. Im Winter menschenleer. Wie sich all die neuen Bauten mit dem Nationalparkkonzept vertragen, weiss ich allerdings nicht. Bald kommen wir im Dörfchen Terelj selbst an – sehr malerisch gelegen an einem Flüsschen, nebst Luxushotel, Golfanlage und… einem blitzblanken Dorfladen nebst gelangweilter Verkäuferin. Den wir aber gleich wieder verlassen. Gleich am Dorf gibt es eine Furt, über die man im Sommer nur sehr schwer kommt, aber jetzt ist Winter und der Fluss ist vollkommen zugefroren. Danach geht es durch ein kleines Wäldchen – auf einem Weg, den man ohne Offroader auf gar keinen Fall passieren kann. Das mit den Bäumen hier ist ganz einfach: Prinzipiell gibt es in der Gegend nur sehr wenige, da es einfach zu wenig Niederschlag gibt. Auf einigen Bergen und entlang der Flüsse findet man jedoch welche. Wir verlassen aber bald den Fluss und fahren entlang einer durch den Schnee blendend weißen Hügelkette, bis wir irgendwann in ein kleines Tal einbiegen. Alle 500 Meter bis 1’000 Meter sieht man eins, zwei Jurten nebst Umzäunung. An der zweiten Jurte im Tal halten wir — unser Ziel. Ein Karree, mit drei Jurten auf der linken Seite und Bretterverschläge für das Viehzeug. Wir parken das Auto und betreten die rechte Jurte.
Die Gästejurte
Die Gästejurte

In der selbigen ist es bullig warm. Von einem mit Folie bespannten Loch in der Mitte dringt Tageslicht herein. In der Mitte stehen die beiden Hauptstreben der Jurte, und davor steht der Ofen, der gleichzeitig als Herd benutzt wird. Es gibt drei Betten, zwei kleine, farbenfrohe Schränke, einen Teppich an der Wand. Rechterhand sitzen drei kräftig genährte Frauen und schwatzen. Gegenüber der kleinen Eingangstür sitzt der Hausherr, ein hochgewachsener und sehr freundlich dreinschauender Mann. Wir werden einander vorgestellt und an den winzigen Tisch mit den Campingstühlen gebeten. Der Hausherr spricht sogar ein wenig Englisch. Erstmal gibt es eine Tasse des bereits bekannten сүүтэй цай (Suutei Tsai) – leicht gesalzener Milchtee, wobei die Milch eindeutig dominiert. DAS Getränk in der Mongolei. Die Frauen sind dabei, Бууз (Buuz) zu machen: Teigtaschen mit Fleischfüllung. Auch die habe ich schon in der Hauptstadt kennen- und schätzengelernt. Ich bin schon immer ein Riesenfan von chinesischen Xiǎolóngbāo gewesen, weshalb ich mich gerade im Paradies wähne: Mit einem kleinen Nudelholz werden runde Teigfladen gerollt, in die kommt dann ein Löffel frisches Fleisch, dann werden die Teigtaschen oben zusammengezwirbelt. Beim Dünsten bildet sich dann etwas Brühe in den Teigtaschen, die dann beim Essen langsam in den Mund strömt. Ein Gedicht.
Trinkwasservorrat (kommt vom Fluss)
Trinkwasservorrat (kommt vom Fluss)

Wir unterhalten uns ein wenig beim Essen. Irgendwann kommen wir auf das Thema Wölfe zu sprechen, da die in der Mongolei für die Nomaden eine rechte Plage sind. Ich frage, ob es hier auch Wölfe gibt (teilweise aus Eigeninteresse, denn die “Toilette”, ein Bretterverschlag mit Loch im Boden, halbem Dach und ohne Tür steht rund 50 Meter von den Jurten entfernt). Der Mann bejaht das, wird jedoch plötzlich ganz ernst und weist mich daraufhin, dass man beim Essen nicht über Wölfe spricht. Nun gut, dass muss man erstmal wissen. Nach dem Essen verabschiedet sich der Mann — er muss seine Tochter aus der 50 Kilometer entfernten Schule abholen, da ab morgen Ferien sind.
Die Führerin weist mir die mittlere, blitzsaubere Jurte zu. Da soll ich schlafen. Es gibt drei Betten, einen Ofen sowie eine Kiste der Reisefirma mit ein paar Büchern und anderen Sachen. Fahrer und Führerin werden in der linken Jurte übernachten. Die beiden benehmen sich dabei wie zu Hause, aber auch das werde ich noch merken: Das ist normal. Jurten werden nicht abgeschlossen, die Leute kommen und gehen – und alle benehmen sich wie zu Hause. Ganz normal.
Schnee und Eis. Unten: Gehöfte von vier Familien
Schnee und Eis. Unten: Gehöfte von vier Familien

Es ist jetzt 14 Uhr am Nachmittag. Ich hätte jetzt mit einem Pferd reiten können, aber das habe ich beim Gespräch mit der Reiseagentur abgewählt. Sicher, das macht auf jeden Fall Spaß. Aber meine Schuhe und Handschuhe sind definitiv nicht geeignet für einen längeren Ausritt bei diesen Temperaturen. Also gibt es nicht viel zu tun bis zum Abendessen. Bayaraa fragt, ob ich mich etwas ausruhen möchte. Oder ob ich einen Spaziergang machen möchte. Zum Ausruhen ist die Zeit zu schade. Also laufen wir den sanften Hügel hinter den Jurten hoch, durch herrlich knirschenden Schnee. Hinter dem Hügel lockt ein Berg – geschätzt rund 400 Meter hoch (wir befinden uns übrigens schon auf rund 1’500 Meter Höhe), und soweit sichtbar so gut wie baumfrei. Ich deute an, dass wir ja einfach weiterlaufen könnten. Und meine Begleiterin hat nichts dagegen. Ein mittelgroßer, schwarzer Hund mit Halsband läuft uns immer ein paar dutzend Meter voraus – er gehört zur Familie und scheint Spaß daran zu haben, uns zu führen. Und so geht es immer höher. Im Schnee etwas beschwerlich, wird es in den etwas steileren Passagen leichter, da dort der Schnee weggeweht wurde. Und so geht es rund anderthalb Stunden immer höher.
Oben stehen gleich zwei Oboo. Beide sind eine Mischung aus Steinhaufen mit grösseren Ästen darauf. In dem kleineren liegt ein bereits reichlich verwitterter Pferdeschädel, und auch der hat seine Bedeutung: Jemand hat den dort platziert, weil er sich wünscht, ein Rennpferd großziehen zu können. Auf dem Gipfel stehen ziemlich viele Bäume, aber man hat trotzdem – zumindest in drei Richtungen – eine famose Aussicht. Die Luft ist glasklar, und in den drei Richtungen gibt es weit und breit nichts Höheres. Ein erhabener Anblick, und ich bin Bayaraa dankbar, dass sie ohne Murren mitgelaufen ist, denn ich bin nicht sicher, ob ich hier, mitten in der Mongolei, allein hochgelaufen wäre, denn hier grasen auch Pferde und rennen Hunde herum. Und den Hundebesitzer hatten wir auch schon aus der Ferne gesehen. Der Hund, der uns von Anfang an begleitet, ist immer noch da und zeigt uns erstaunlich präzise den besten Weg durch den Schnee.
Oboo mit Pferdeschädel
Oboo mit Pferdeschädel

Doch es ist schon kurz vor vier, und kurz nach 5 Uhr wird es dunkel. Bis dahin sollten wir also besser zurück sein. Wir kommen an einer kleinen Herde Pferde vorbei, die am Hang nach Futter suchen. Kühe und Yaks sind klug genug, die kehren am Abend allein zur Behausung zurück. Schafe und Ziegen müssen heimgeführt werden. Pferde jedoch dürfen draussen bleiben, auch nachts. Wo sie allerdings gelegentlich, vor allem im Winter, Wölfen zum Opfer fallen. Und die Pferde sind recht agil. Erst vor ein paar Tagen, erzählte mir der Familienvater, war er drei Tage unterwegs, um seine Pferde zu suchen. Die hat er schließlich auch gefunden – und ist dann wieder nach Hause zurückgekehrt. Ohne Pferde. Er wollte nur wissen, wo sie ungefähr zu finden sind. Dieser Gedanke, zwei, drei oder mehr Tage draussen herumzureiten, um irgendwo seine Pferde zu suchen, ist betörend. Viele mongolische Nomaden ziehen übrigens nicht etwa kreuz und quer durch das Land, sondern bleiben in einem relativ überschaubaren Bereich. Auch meine Gastfamilie zieht jeden Sommer um – aber nur einen knappen Kilometer, zum nahegelegenen Fluss, denn dort ist es im Sommer rund 10 Grad kühler, und es gibt natürlich mehr Wasser und damit auch Futter. Ich frage meine Begleitung, wie mongolische Nomaden denn dann einen Partner zum Heiraten finden, wenn sie mehr oder weniger in der gleichen Gegend bleiben. Die Antwort ist logisch: Beim Pferdesuchen. Sie reiten tagelang ihren Pferden hinterher und müssen natürlich überall herumfragen, ob jemand die Pferde gesehen hat. Und so findet man sich eben. Irgendwie. Früher war es wohl auch dementsprechend verboten, jemanden aus der gleichen Gegend zu heiraten. Mongolische Pferde sind übrigens vergleichsweise klein, aber sehr robust und kräftig. Bayaraa warnt mich jedoch, dass es eine üble Beleidigung sei, die Pferde mit Ponys zu vergleichen. Also: Beim Essen nicht über Wölfe reden. Das Wort “Pony” nicht in den Mund nehmen. Lässt sich einrichten. Und noch was: Weiße Pferde darf man nicht “weißes Pferd” nennen, sonst werden die bösen Geister neidisch und raffen das Pferd dahin. Stattdessen muss man es “braunes Pferd” oder irgendwie anders nennen.
Mongolische Pferde
Mongolische Pferde

Die Sonne geht langsam unter und taucht die Gegend in ein ganz besonderes Licht. Unsere langen Schatten laufen auf den Baumkronen eines kleinen Wäldchens entlang immer weiter Richtung Tal, und der Hund läuft treu vorneweg. Gegen 5 Uhr kommen wir an der ersten Jurte vorbei und machen einen weiten Bogen: Jurten werden generell von Hunden bewacht, und die sind auf Zack. Kommt man zu nahe und es ist niemand zu Hause (oder man kann kein Mongolisch…) kann es also brenzlig werden. Und in der Tat: Als wir in rund 50 Meter Entfernung vorbeilaufen, kommt ein mittelgroßer Hund raus, der uns zwar nicht anbellt, aber uns sehr genau beobachtet und stets zwischen Jurte und uns bleibt. Noch 300 Meter und es ist geschafft: Wir sind an Jurtenansammlung Nummer 2, unseren Jurten, angekommen. In der knappen halben Stunde seit die Sonne hinter den Bergen verschwunden ist, wurde es spürbar kühler.
Jurten, Viehverschläge, kleine Hütten - und die Toilette (links)
Typisch: Jurten, Viehverschläge, kleine Hütten – und die Toilette (links)

“Zu hause” angekommen gibt es von der Frau Gemahlin erstmal einen Milchtee. Und da noch viel Zeit ist bis zum Abendessen, holt jemand einen Packen Karten raus, und man erklärt mir die Regeln von хөзөр (Chösör), ein in der Mongolei beliebtes Kartenspiel. An die Reihenfolge (Ass – 2 – 3 – König – Dame etc.) muss man sich erstmal gewöhnen. Interessant ist auch das Ziel des Spieles: Jenes ist nämlich nicht, zu gewinnen, sondern nicht zu verlieren. Und der, der im Uhrzeigersinn vor dem Gewinner sitzt, hat verloren. Das klingt erstmal komisch, aber wenn man taktisch gut spielt, kann man hier auf zwei Ziele hinarbeiten: Entweder, selbst zu gewinnen (damit man nicht verliert), oder durch geschicktes Legen dafür sorgen, dass der Nachbar nicht gewinnt. Interessant. Immerhin weiss ich jetzt, dass “mä!” auf Mongolisch “Nimm das!” und “beriberi” “Ich nehme das” heißt (wer mehr wissen will – die Regeln gibt es hier auf Englisch).
Rindvieh mit rauchender Jurte
Rindvieh mit rauchender Jurte

Schnell sind fast zwei Stunden rum. Der Hausherr ist immer noch nicht zurück. Plötzlich geht die kleine Tür auf, und sechs oder mehr Kinder und ein paar Erwachsene strömen herein. Unangemeldet. Die Massen lassen sich nieder, wo es passt, und sind ziemlich laut. Man ignoriert mich völlig, und das ist ebenfalls interessant. Die Menschenmenge scheint eine Mischung aus Verwandtschaft und Nachbarn zu sein. Die Mutter überredet alle, zum Essen zu bleiben, denn “dann schmeckt es doch besser”. Auch der Gastvater ist inzwischen zurückgekehrt, mit seiner erstaunlich großen und pummeligen, sechs-jährigen Tochter. Jetzt ist Essenszeit, und jeder erhält eine dampfende Schale mit гурилтай шол (Guriltay Schol), einer Nudel-Fleisch-Suppe mit ohne Gemüse. Das ganze Fleisch ist übrigens immer von selbst gezüchteten Tieren, Nudeln und Teig immer handgemacht. Es scheint, dass die Menschen hier nur zwei Sachen einkaufen: Mehl und Salz. Basta.
Unser treuer Begleiter
Unser treuer Begleiter

Irgendwann werden die Kinder nach draußen gescheucht – junge und ältere – um die Kühe, die einfach so vor den Jurten herumlungern, ins Gehege zu scheuchen. Und so schnell wie alle gekommen sind, sind sie auch wieder verschwunden: Es wird plötzlich leise in der Jurte. Die Gemahlin kündigt noch an, dass sie schnell eins, zwei Kühe melken muss, und so gehen wir alle zusammen noch mal raus. Wo es jetzt richtig bitterkalt ist. Ich hatte mir vorgenommen, ein Foto vom Sternenhimmel zu machen. Es ist Neumond, doch die Sterne leuchten so hell, dass man draussen kein Licht braucht. Und die Mlchstraße ist sehr deutlich zu erkennen. So einen prachtvollen Sternenhimmel habe ich jedenfalls seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen – kein Wunder, bei der Kälte, der klaren Luft und der Tatsache, dass es weit und breit keinen Lichtsmog gibt. Aufnahmetechnisch stosse ich jedoch leider an die Grenzen der Ausrüstung: Lasse ich die Kamera in der Jurte, friert beim rausgehen sofort die Linse ein, und man sieht gar nichts. Lasse ich die Kamera nebst Tasche eine halbe Stunde draußen stehen, versagt die Batterie vollständig (und ist nach einer Weile in der Jurte wieder vollkommen erholt). Ausserdem liegt die maximale Belichtungszeit bei 30 Sekunden, was nicht vorne und nicht hinten reicht. Davon mal abgesehen muss ich allerdings sagen, dass meine Canon X8i die Kälte in der Mongolei ausgezeichnet weggesteckt hat.
Winterlandschaft
Winterlandschaft

Als wir wieder drin sind, sind Zehen und Finger gut durchgefroren. Man unterhält sich noch ein bisschen – über einen politischen Mordfall von vor 15 Jahren, der nun plötzlich auf mysteriöse Weise aufgeklärt wurde, und über eine von Nachbars Kühen, die schon so alt ist, dass sie keine Zähne mehr hat – und das der Nachbar sie doch langsam schlachten sollte. Mit Hilfe von Bayaraa unterhalte ich mich auch noch ein wenig mit der Tochter und frage sie, was sie denn in der ersten Klasse für Schulfächer hat. Darunter: Umwelt und Natur. Alle Achtung.
Gegen 9 Uhr ist Zapfenstreich. Draussen wird noch etwas herumgefuhrwerkt und an den Tieren gemacht, doch bald ist es zappenduster, bullig warm in der Jurte und still. Irgendwann in der Nacht werde ich wach, weil es doch etwas kälter geworden ist – aber nicht sehr kalt. Doch irgendjemand legt gegen 4 Uhr Holz nach.
Am nächsten Morgen gibt es wie immer Milchtee und dazu хайлмаг Chailmag – eine mongolische Spezialität aus Yakmilchrahm (selbst geschöpft), Zucker und Mehl. Das wird dann noch warm aufs Brot geschmiert – und es schmeckt. Kalorien? Bestimmt um die 10’000 pro Löffel. Aber eben auch lecker. Nach dem Frühstück heisst es dann auch schon Aufbruch – schliesslich hat die Familie auch noch einiges zu tun. Der Gastvater, Naraa ist sein Name, ist übrigens im Sommer häufig Anführer von Treckingtouren mit Pferden in der Gegend. Das macht sicher großen Spaß – Naraa ist sehr geduldig und hat seinen eigenen Sinn für Humor.
Chailmag - ganz frisch
Chailmag – ganz frisch

Wir brausen zurück, zum Dorf über den Pass, und dann fast in die gleiche Richtung zurück. Nur eine kleine Bergkette trennt uns nach weit mehr als einer Stunde Fahrt von der Familie. Wäre es normal kalt, hätten wir den ganzen Weg enorm abkürzen können, doch nach einiger Beratung mit den Nachbarn wurde klar, dass der Fluss vor der Bergkette an einigen Stellen eben noch nicht komplett zugefroren ist. Tagsüber sind es nur knapp -20 Grad, und das ist wärmer als üblich. Unser Ziel ist dieses Mal eine gigantische Dschingis-Khan-Statue mitten im Nirgendwo. Die ist keine zwanzig Jahre alt und wurde von einem Politiker und Wirtschaftsmagnaten initiiert. Der gilt zwar ebenfalls als korrupt, wie viele seiner Kollegen in der Mongolei, doch immerhin, erklärt die Führerin, tut er was für sein Land. Er hinterlässt zum Beispiel eine riesige, sichtbare Statue für den berühmtesten Sohn des Landes — der ja selbst so gut wie gar nichts Sichtbares hinterlassen hat. Die Statue ist beeindruckend, und das Museum im Sockel durchaus sehenswert. Wenige Fahrminuten entfernt essen wir schliesslich noch Mittag, bei einem Mongolen, der Flüge im Gyrokopter anbietet. Allerdings nicht im Winter. Schade eigentlich, denn die Preise sind sehr zivil.
Gigantische Dschingis-Khan-Statue
Gigantische Dschingis-Khan-Statue

Danach geht es langsam zurück in die laute, versmogte Hauptstadt. Da wir noch etwas Zeit haben und ich Souvenire für die Verwandschaft kaufen will, geht es in einen “Factory Store” der Firma Gobi – die mongolische Marke für echte Kaschmirwollprodukte. Dort herrscht richtiger Trubel, denn es ist Jahresendschlussverkauf.
Nach einem Abend im sehr empfehlenswerten Beer House gleich hinter der riesigen russischen Botschaft bricht auch schon die letzte Nacht an. Am nächsten Tag wartet wieder, wie verabredet, der Taxifahrer vor dem Hotel und bringt mich zurück zum Flughafen. Er wird etwas wehmütig: Ab 2017 soll der neue Flughafen in Betrieb genommen werden – dieser liegt dann 50 Kilometer entfernt von der Hauptstadt – zu weit für ihn, um, wahrscheinlich oftmals vergeblich, dort auf Reisende hoffend jeden Tag im Flughafen auf einen der wenigen Flüge zu warten.
Und hier noch ein Alltagsgruß aus Ulan Bator, kurz "UB" genannt
Und hier noch ein Alltagsgruß aus Ulan Bator, kurz “UB” genannt

Das waren sie also – 6 Tage in der Mongolei, mitten im Winter. Ich muss auf jeden Fall noch mal hierher – und so schön es im Winter auch ist, möchte ich das ganze dann doch auch mal gern im Sommer sehen. Etwas länger, wenn möglich. Sowohl der Fahrer als auch die Führerin gehören jetzt zu meinen Facebook-Kontakten, also ist doch schon mal ein Anfang gemacht…
Vielen Dank für’s Lesen, und beim nächsten Mal geht es wieder weiter mit Japan!

tabibito
tabibitohttps://japan-almanach.de
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

5 Kommentare

  1. S-U-P-E-R-Bericht, ich bin offiziell neidisch! Ohne konkreten Plan steht die Mongolei auch auf meiner Liste, aber wann es was wird???

  2. Dank deinem Reisebericht ist die Mongolei jetzt auf Platz 2 meiner Wunschziele für den nächsten Urlaub, gleich nach Bhutan. Wenn ich doch nur meinen Husky mitnehmen könnte, der liebt es arschkalt und verschneit -_-

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