Eine Durchsage im Zug: “Da am 13. und 14. Februar die Oberschuleintrittsprüfungen stattfinden, werden in dieser Zeit verstärkt Patrouillen in den Zügen stattfinden”. Der Zusammenhang mag sich für nicht in Japan Lebende Menschen nicht sofort erschliessen, aber leider gibt es einen ernsthaften Hintergrund. Denn jedes Jahr tauchen im Januar und Februar Kommentare im Internet auf, in denen Leute Dinge wie “Morgen kann man JK (Anmerkung: Kurzform für Joshi Kōkōsei – Oberschülerinnen) anfassen, wie man möchte – man wird nicht gemeldet” oder “Da die Schülerinnen auf gar keinen Fall zu spät zur Prüfung erscheinen dürfen, können wir alles mit ihnen anstellen” von sich geben. Die Logik stimmt: Sowohl die Uniprüfung (kyōtsū tesuto) für 18-jährige als auch die Oberschulprüfung für 15-jährige ist extrem wichtig – die Wahrscheinlichkeit, dass eine Schülerin deshalb grosses Aufsehen erregt und damit Gefahr läuft, die Prüfung zu verpassen, ist damit geringer als an anderen Tagen. Ein perverses Kalkül, dass tiefe menschliche Abgründe offenbart, denn durch die sexuelle Belästigung vor der Prüfung ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die (Leid)geprüften sich in der Prüfung nicht konzentrieren können, was einen großen negativen Einfluss auf die kommenden Jahre haben kann, vom traumatischen Erlebnis des Übergriffs im Allgemeinen mal ganz abgesehen.
Das Problem ist so bekannt, dass es zu dem Thema sogar einen langen Eintrag unter dem Titel 共通テスト痴漢祭り gibt. Noch mal: Das betrifft jedoch nicht nur Oberschülerinnen, sondern sogar Mittelschülerinnen, also Mädchen im Alter von 15 Jahren. Auf X-Twitter kursierte dazu der Hashtag #withyellow, mittels dessen Menschen dazu aufgerufen wurden, sich etwas Gelbes an die Sachen zu heften und im Zug aufzupassen, dass es zu keinen solcher Vorfälle kommt – und falls doch, einzuschreiten (wie ich es unter anderem hier beschrieben habe). Kurze Anmerkung: Da ich unter gar keinen Unterständen Elon Musk und sein Netzwerk unterstützen möchte, habe ich keinen X-Account mehr und kann deshalb nicht überprüfen, ob und wenn ja in welchem Umfang der Hashtag immer noch benutzt wird.
Aber ist an der Sache auch wirklich etwas dran? Es klingt so infam, dass man es nicht glauben möchte. Und belastbare Statistiken zum Thema gibt es scheinbar auch nicht – selbst wenn, wären sie nicht sehr aussagekräftig, denn ein erhöhtes Aufkommen an Schülerinnen, gepaart mit einem insgesamt höheren Passagieraufkommen (sprich, mehr Gedränge im Zug und damit eine gute Ausgangslage für Grabscher) sowie mehr wachsamen Leuten als üblich würden natürlich die Zahl der Fälle an Prüfungstagen ansteigen lassen. Dazu ein paar allgemeine Zahlen: Allein in Tokyo Stadt wurden 2023 813 Fälle angezeigt – zwei Drittel davon geschahen im Zug. Laut dieser von der Tokyoter Stadtregierung in Auftrag gegebenen Untersuchung sieht die Sache jedoch ganz anders aus: Der Untersuchung zufolge gaben 45% der befragten Frauen (und 9% der Männer) an, mindestens ein Mal angegrabscht worden zu sein. Die mit Abstand am stärksten betroffene Gruppe waren Oberschüler(innen). Dabei wurde auch festgestellt, dass die folgenden Rahmenbedingungen die Wahrscheinlichkeit, angegrabscht zu werden, stark ansteigen läßt:
- Juni-Juli (leichte Kleidung) und April-Mai (neues Schuljahr)
- Sehr volle Züge (das Opfer kann sich nicht entziehen)
- Waggons, die direkt vor Treppen/Ticketschranken halten (Täter kann schnell flüchten)
- Platz nahe den Türen (siehe 3)
- Man fährt allein
- Man trägt Schuluniform
Dass Grabscherproblem wird wohl nie vollends verschwinden, aber je mehr Frauen (und anwesende Passagiere) aktiv werden, desto weniger Grabscher werden den Mut haben, dass zu tun, was sie der Meinung sind tun zu müssen. Da jedoch 45% der Befragten Frauen angaben, mindestens ein Mal begrabscht worden zu sein – und nur 813 Fälle zur Anzeige kamen – scheint die Wahrscheinlichkeit, zur Rechenschaft gezogen zu werden, noch immer sehr gering zu sein. Und selbst wenn – das Grabschen in Tokyo wird nur mit einer Geldstrafe von rund 3000 Euro oder einer Gefängnisstrafe von 6 Monaten geahndet wird.
Auf einer beruflichen Reise in Europa fand ich mich letztens auch in einem vollgestopften Bus. Noch nicht Japan-voll wie man es aus Youtube-Videos kennt, aber für westliche Verhältnisse doch gut gefüllt. An einigen Stationen mussten die Fahrgäste draußen bleiben.
Als jemand, der jetzt doch schon ein paar Jahre die japanische Kultur verfolgt, habe ich da auch zugesehen, dass meine Hände sichtbar oben an einem Haltegriff sind.
Scheint sich auch gar nichts gesellschaftlich zu tun, bei dem Thema? Mein Japan-Interesse hat vor etwa 15 Jahren angefangen und damals waren es genau die gleichen Berichte. Mich würde ja mal interessieren, warum das in Japan so häufig ist. Muss ja eigentlich ein kulturelles Ding sein? U-Bahnen in anderen Großstädten dürften doch bestimmt auch voll sein. Will mir halt nicht so recht in den Kopf, was kulturell dazu führt, dass sich ein im Vergleich zu anderen Ländern anscheinend signifikant größerer Teil der Bevölkerung denkt, er wolle andere Leute (vorwiegend Frauen) in der Bahn begrapschen.