Japan gedachte dieser Tage den Opfern des Großes Kantō-Erdbeben 1923, welches am 1. September 1923 weite Teile von Tokyo in Schutt und Asche legte. Mindestens 100’000 Menschen – oder rund 3% der Bevölkerung – kamen dabei ums Leben. Es waren weniger die Erschütterungen durch das Erdbeben direkt, die viele Menschen haben sterben lassen – das größte Problem waren die Feuersbrünste. Am extremsten war die Lage am 陸軍被服本廠 — dem ehemaligen Kleiderdepot des Kaiserlichen Heeres. Zehntausende Menschen strömten nach dem Erdbeben dorthin, doch ein riesiges Feuer entfachte dort einen Feuertornado, der viele tausend Menschen einfach in die Flammen hereinsog. Schätzungen gehen davon aus, dass allein bei diesem Ereignis rund 38’000 Menschen ums Leben kamen.
Ein weiteres, trauriges Kapitel des verheerenden Erdbebens war das 關東大虐殺, das “Große Kanto-Massaker”. Die Regierung sprach unmittelbar nach dem Erdbeben das Kriegsrecht aus, um mit Hilfe der Armee der chaotischen Lage Herr zu werden. Auch die Polizei bekam freie Hand, doch am verhängnisvollsten waren die Gerüchte, die sofort die Runde machten – nämlich dass Koreaner und andere Minderheiten begonnen haben sollen, Brunnen zu vergiften und andere Sabotageakte zu verüben. Selbsternannte Bürgerwehren machten sich auf die Suche nach Koreanern, die man anhand eines shibboleth zu identifizieren versuchte – sie mussten zum Beispiel die japanischen Vokale (“a-i-u-e-o”) oder Wörter mit einer Mischung aus Lang- und Kurzvokalen aufsagen. Hörte man einen vermeintlichen koreanischen Akzent heraus, war der oder die Befragte des Todes. Das Massaker dauerte rund drei Wochen und forderte geschätzte 6’000 Tote. Hierzu gibt es unter anderem bei der Zeit einen lesenswerten Artikel.
In den 100 Jahren danach hat sich viel getan. In der Stadtplanung zum Beispiel, aber auch beim Katastrophenschutz. In Gedenken an das Erdbeben im Jahr 1923 wird seit 1960 der 1. September jeden Jahres der 防災の日 als begangen — als “Tag des Katastrophenschutzes”. An dem Tag werden zahlreiche Großübungen begangen, aber auch sonst sind 訓練 — (Katastrophenschutz)übungen etwas, was japanische Kinder bereits seit dem Kindergarten lernen. Beim nächsten großen Erdbeben von Tokyo — es kommt mit Sicherheit, man weiß eben nur nicht, wann — sollte die Hauptstadt also besser gewappnet sein. Doch eins bereitet noch immer Sorge: Die Kraft der Gerüchte. Bei “kleineren” Erdbeben gab es in den vergangenen Jahren in Japan sofort immer Falschinformationen im Netz, entweder absurder Natur (“ein ausgebrochener Löwe läuft durch das Stadtzentrum von Kumamoto”) oder nationalistischer, gehässiger Natur. Und die meisten Menschen, vor allem unter hohem Stress, haben ein verständliches Problem damit, mit zu viel oder zu wenig Informationen gut umgehen zu können. Noch schlimmer wird es dann, wenn Ressourcen ausgehen, und davon kann man, zumindest kurzfristig, bei einem schweren Erdbeben in oder um Tokyo ausgehen. Dann heißt es alle gegen alle – leider gab es da auch ein paar, wenn auch wenige, hässliche Fälle nach dem schweren Tohoku-Erdbeben im Jahr 2011.
Gut das nach dem Erdbeben 2011 und seine Folgen sich nicht auch so eine mordende Bürgerwehr in Japan gebildet hat.