BlogUmgekehrter Kulturschock im Anmarsch

Umgekehrter Kulturschock im Anmarsch

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Im Juli geht es endlich mal wieder in die Heimat – und dieses Mal sogar richtig lange, also fast 3 Wochen. Das wird auch langsam Zeit – schliesslich war ich seit drei Jahren nicht mehr dort. Und wie immer freue (?) ich mich auf den sogenannten reverse culture shock, der umso schlimmer ausfällt, je länger man weggeblieben ist, denn der Mensch hat ja die famose Eigenschaft, gute Erinnerungen den schlechten hervorzuziehen. Vor drei Jahren kam ich zum Beispiel in meinem Heimatort in den Genuss des Kulturschocks. Eines Abends beschloss ich, allein etwas durch die dunklen Gassen zu schlurfen und wenn möglich kurz in einer Bar aufzuschlagen, um mal wieder richtig die Eingeborenen beobachten zu können. Das ich dabei jemanden Bekannten treffen würde, war ziemlich unwahrscheinlich: Ich bin mit 14 Jahren aus der Stadt weggezogen, und ich habe ein lausiges Personengedächtnis: Selbst wenn jemand von meiner alten Klasse neben mir sitzen würde, würde ich den- oder diejenige mit Sicherheit nicht wiedererkennen. Irgendwann traf ich tatsächlich auf eine pubähnliche Einrichtung mit – meine alte Biologielehrerin hätte dazu “Muschepupu-Beleuchtung” gesagt – eines dieser famosen und aberwitzigen Wörter, die man nie im Leben zuvor gehört hat, aber sofort weiss, was gemeint ist. Im Etablissement war ich prompt enttäuscht: Zwei Daddelautomaten dudelten leise vor sich hin. Die Dinger hatte ich in der Tat völlig vergessen. Hinter dem Tresen stand eine Dame, wahrscheinlich um die 30, und am Tresen sassen drei Gäste – ganz offensichtlich Stammgäste, die sich und die Bedienung lange kannten. Das ist kein Wunder in einem 30’000-Seelenort. Das Beisammensein der vier sah recht intim aus, und es war schon elf Uhr abends und werktags – da drängte sich natürlich die berechtigte Sorge auf, dass hier gleich Zapfenstreich gemacht wird. Also fragte ich, mangels Hinweisen auf Öffnungszeiten, freundlich nach, wie lange denn heute geöffnet sei. Die Antwort kam prompt: ” Na die janze Nacht will ick hier nich mit Dir rumhängen!” Rums. Direkt in die Fresse. Hier herrschen klare Verhältnisse, und dem Gast wird sofort klargemacht, dass er hier nur nämlicher ist.
Nun ist (Rand)berlin ohnehin nicht berühmt für seine Kundenfreundlichkeit. Und letztendlich tröstete ich mich mit dem Gedanken, mit dem ich auch meine Frau damals in der Ukraine, Weißrussland und ähnlichen Gefilden auf Reisen tröstete: “Sieh es mal so: Wenn Dich hier jemand anlächelt, dann ist es wenigstens ein echtes Lächeln!”
Natürlich geht es nicht nur mir so. Mein englischer Geschäftspartner weilt zum ersten Mal seit 20 Jahren ein paar Monate auf der heimischen Insel. Seinen Worten zufolge funktionieren dort zuverlässig 9 von 10 Dingen überhaupt nicht, was ihn zur allabendlichen, verzweifelten Frage bringt: Wie können die Leute hier nur leben?

tabibito
tabibitohttps://japan-almanach.de
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

14 Kommentare

  1. Haha, nach bald 6 Jahren Japan ists bei mir nicht mehr so mit dem reverse culture shock. Zumindest nicht wenn ich nicht ganz bewusst nur unangenehme Dinge in der Heimat mache. Im Gegenteil, mir fällt immer auf wie kompetent und zügig das meiste in Deutschland abgewickelt wird. Und wenn man was falsch macht, wird man darauf hingewiesen und es guckt einen kein Japaner ewig lange an als wär man ein Tier. Kommunikationsvermögen und Zeitmanagement etc.. Womöglich nehm ich die Japaner viel zu ernst und komme auf zu vieles nicht klar. Wie machen die ganz normalen Westler das denn hier?

  2. Man hat das Gefühl dass Du Deinen Blog schleichend auf Englisch umstellst, gemessen an den immer häufiger werdenden englischen Satzbausteinen/Überschriften. Darfst gerne bei Deutsch bleiben…:)

    • Sei nachgiebig! Ich spreche seit nunmehr 11 Jahren wesentlich mehr Englisch und Japanisch als Deutsch, da rutscht sowas schon mal durch… der Blog bleibt natürlich deutschsprachig!

  3. Ich mag ja dieses Kultur-Schock-Gefühl, vor allem in Deutschland. Die ersten Tage sind die besten, da fühle ich mich wie die Fremde im eigenen Land und hab immer das Gefühl, alles sehen mir das auch an.
    Ich hatte das mit der Euroumstellung 2002 verpasst und war wahrscheinlich die einzige, die 2004 noch alles in DM umrechnen musste (um dann den Yen-Preis zu ermitteln).

    • Oh je. Ich weiss noch, dass ich ein paar Tage nach der Euroumstellung nach Taiwan geflogen bin, und da wollte niemand meine Euro tauschen, da sich die Nachricht noch nicht herumgesprochen hatte…

  4. mir fallen natürlich auch immer die vielen kleinen dinge unangenehm auf. service ist so ein thema, sicher!
    schön ist aber schon dass man in europa als europäer einfach besser in die masse abtauchen kann. auch mit nur durchschnittlichen spanischkenntnissen bin ich in spanien niemals so sehr ausländer wie in japan mit prima japanischkenntnissen! :-(

  5. Sehr gut beschrieben! Ich finde diesen “umgekehrten Kulturschock” besonders aufschlussreich, weil man dabei immer merkt, wie viel man von den Unsäglichkeiten in der traulichen Heimat verdrängt hat (klar, hier in Japan ist auch nicht alles Gold, was glänzt). Aber ich weiß schon, warum ich mich jedes Mal versucht sehe, den Wojtyla zu machen, wenn ich wieder zurück in Japan bin…

  6. Ich mach genau die gleichen Erfahrungen, wenn ich mich ab- und zu zurueck nach Brandenburg traue. Muss vielleicht auch an der Region liegen, wenn es dir in Rand-Berlin aehnlich ergeht… ;)

  7. Mich hat der umgekehrte Kulturschock ziemlich heftig erwischt. Auf kurzen Besuchen in der Heimat war es nicht so schlimm. Aber wenn man nach 7 Jahren wieder in die Heimat zieht und in der Zwischenzeit so gut wie nie zuhause war, dann …..
    Selbst heute nach 1,5 Jahren erwischt es mich noch ab und an.
    Mal sehen, wie es mir umgekehrt dieses Jahr geht, wenn ich in meine zweite Heimat zurückreise. ;)
    Bin auch mal gespannt, was du nach deinem Heimataufenthalt erzählen wirst. :)

  8. Das ist mir auch schon oft passiert. Irgendwie gewöhnt man sich an das Leben in Japan und in Deutschland wird man vor dem Kopf gestoßen… Vor allen Dingen im Raum Berlin sind die dafür bekannt…

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