Das mit den Kirschblüten ist schon eine interessante Wissenschaft: Alljährlich veröffentlichen Wetterdienste Karten und Vorhersagen der “Kirschblütenfront”, anhand derer man erkennen kann, wo und zu welcher Zeit die Bäume zu blühen beginnen – und die japanischen Kirschbäume sind ja bekanntermassen besonders prachtvoll. Normalerweise erreicht die Kirsche im Großraum Tokyo in der letzten Märzwoche die volle Blüte — doch die Vorhersagen deuteten darauf hin, dass es dieses Jahr etwas früher sein könnte. Genauer gesagt wurde die Kirschblüte in diesem Jahr für den 17. März vorhergesagt, doch obwohl sich nun schon der 27. März dem Ende neigt, blüht noch immer nichts. Das ist nicht ganz richtig — ein paar Sorten blühen schon und sorgen zum Beispiel entlang der Meiji-Straße bei Shibuya für ungeahnte Touristenaufläufe. Doch die “Standard”-Kirsche für den Großteil von Japan ist die Somei-Yoshino-Kirsche, und die blüht eben noch nicht.
Für die Vorhersage der Blüte zieht man gern die 600-Grad-Regel heran: Diese ist ganz einfach und besagt, dass die Kirschen zu blühen beginnen, wenn die Gesamtsumme der Tageshöchsttemperaturen seit (und einschließlich) dem 1. Februar 600 Grad erreicht. In den letzten 10 Jahren lag die Durchschnittssumme der Tageshöchsttemperaturen bei Einsetzen der Kirschblüte bei 614 Grad — grob gerechnet scheint die Formel also zu stimmen. Doch dieses Jahr war – mal wieder – ein 暖冬, ein warmer Winter. Seit Beginn der japanischen Wetteraufzeichnungen im Jahr 1898 war die Durchschnittstemperatur von Dezember bis Februar die zweithöchste — nur 2020 war es etwas wärmer. Und so erreichte man schon am 17. März die obige 600 Grad-Marke, doch das scheint dieses Mal die Kirschen kalt zu lassen.
Mit dem heutigen Tag ist man nun schon bei einer Summe von 741 Grad — das letzte Mal, dass Kirschen erst nach einer so hohen Gesamtsumme der Temperaturen blühen, war 1962 — also vor 62 Jahren. Doch wie kommt das? Am Niederschlag liegt es jedenfalls nicht, den gab es in den vergangenen Wochen reichlich.
Als erstes könnte man — so man in Tokyo lebt — das Märzwetter als Hauptursache vermuten. Die Durchschnittstemperatur meiner Wetterstation verzeichnete einen Temperaturdurchschnitt von 7.68 Grad im Februar — und einen Durchschnitt von lediglich 8.57 Grad im März. Mit anderen Worten, der Februar war zu warm, und der März bisher zu kalt. Die Temperaturen sind kaum gestiegen, und es fiel sogar Schnee. Doch der Hauptgrund für die späte Blüte liegt eher in den warmen Vormonaten: Die Kirschen brauchen eine gewisse Periode kalter Temperaturen, um quasi in eine Art Winterschlaf zu verfallen. Erst danach kommt das weiß-rosa-Erwachen. Doch diese Periode gab es aufgrund des warmen Winters nicht, beziehungsweise verlegten die Kirschen den Winterschlaf in den relativ kalten März.
Da die Somei-Yoshino-Kirschen gerade zu knospen beginnen, werden die Kirschen in Tokyo zu Beginn der kommenden Woche, also rund um den 1. April, in voller Blüte stehen. Für Japantouristen ist das ganze in diesem Jahr ein Vabanque-Spiel, denn lange sah es nach einer frühzeitigen Blüte aus. Touristen, die deshalb Mitte März anreisten, sahen also so gut wie nichts — was jetzt Anreisende natürlich um so mehr freut.
Ich kann das leider nur bestätigen: Voller Vorfreude letzten Sonntag in Tokyo angekommen – und seither nur wenige Kirschbäume blühend angetroffen. Selbst in Fukuoka, doch ein ganzes Stück weiter im Süden, ist die allermeisten Kirschbäume erst kurz davor zu blühen.
Irgendwie finde ich es aber auch tröstlich, dass sich trotz Technik etc. manche Dinge immer noch nicht so perfekt vorhersehen lassen.
Und weil ich noch etwas länger hier bleibe, werde ich die volle Kirschblüte auf alle Fälle erleben.
Vielen Dank für die interessanten Erklärungen zur Kirschblüte.
Hanami ist schon etwas besonderes.
Es ist nicht einfach, die perfekte Blüte zu erwischen, wenn man von außerhalb kommt.
Einmal wurden wir Opfer eines Pilotenstreiks bei Lufthansa. Dank Ana bekamen wir das Angebot 3 Tage früher oder 3 Tage später zu fliegen. Da die Kirschblüte nicht wartet, flogen wir 3 Tage früher. Glück gehabt, weil unser Hotel noch ein Zimmer für uns hatte.