BlogMinami-Sōma – im Katastrophengebiet Teil 2

Minami-Sōma – im Katastrophengebiet Teil 2

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Nach Teil I also wie versprochen Teil 2 der Tour nach Minami-Sōma. Es ging gegen 9:30 los mit den LKW’s und Autos zu den ersten Behelfsunterkünften. Schätzungen zufolge hatten rund 50’000 Einwohner der 70’000 Einwohner Minami-Sōmas die Stadt in den Wochen nach dem Beben verlassen. Mit anderen Worten – wer wegziehen konnte, zog weg. Man kann aber – in jedem Land und Landstrich – ausgehen, dass es Menschen gibt, die einfach nicht wegkönnen oder wegwollen. Ein Teil dieser Leute lebt in Minami-Sōma in Behelfsunterkünften – und zwar die, deren Häuser weggespült oder vom Beben zerstört wurden, und die, die aufgrund der Lage ihrer Häuser in der Sperrzone nicht nach Hause zurückkönnen. Viele Betroffene erhielten mittlerweilen vom Stadt eine einmalige Unterstützung in Höhe von rund 1 Million Yen, also knapp 9’000 Euro, aber die Leute wissen nicht, wie lange das reichen muss, und die meisten Leute haben ihre Eunnahmequellen verloren, stehen also vor dem Nichts. War das Haus noch nicht abbezahlt, sitzen sie zudem auf einem grossen Schuldenberg.
Aufgrund diverser Vorkommnisse darf nicht einfach jeder in die Lager und etwas machen, denn es kam schon vor, dass sich Nepper, Schlepper, Bauernfänger und Organisationen mit dubiosen Absichten in solchen Lagern breitmachten. Wir hatten jedoch die notwendigen Genehmigungen. An die Familien wurden zudem vorher kleine Flugblätter verteilt, auf denen das Projekt vorgestellt und angekündigt wurde.

Behelfsunterkünfte in Minami-Sōma

Die Lager sind über die ganze Stadt verteilt. Sie stehen völlig im Freien, ohne jeglichen Schatten, auf einer mit Schotter belegten, ebenen Fläche. Graue, containerähnliche Wohneinheiten mit kleiner Küche, Wohnraum, Bad und Klimaanlage. Alles in allem sehr trostlos, aber als Behelfsunterkunft akzeptabel.
Als wir im ersten Lager ankamen, baten wir die Freiwilligen aus dem Ort, den Bewohnern erstmal zu erklären, dass sie besser warten sollten, bis es losgeht, da die Vorbereitung etwas Zeit brauchte und wir die Leute nicht in der Hitze unter praller Sonne warten lassen wollten. Die zwei LKW’s wurden nebeneinander geparkt und ein Vorzelt errichtet. Dann ging es los: Die Bewohner kamen quasi alle auf einmal und stellten sich an. Dann wurde verteilt. Da die Menge für eine Person allein schon 8 Dosen Wasser, zwei Pampelmusen, etliche Kartoffeln, Zwiebeln, Mohrrüben, Rettich (sehr gross in Japan!) umfasste, wog das ganze bereits über 10 Kilo. Da viele der Leute, die auftauchten, sehr alt waren – oder Mütter in sehr jungen Jahren – trugen wir den meisten Leuten ihre Ration bis zu ihrer Wohnung. Auch Kinder jeglichen Alters waren dort, aber es überwogen alte Leute.
Die Reaktion war und ist prinzipiell positiv. Die Leute bedanken sich, oftmals etwas beschämt, und scheinen sehr froh zu sein, dass es die Aktion gibt. Schön war es zu sehen, dass manche offensichtlich ihren Humor nicht ganz verloren hatten: Ein Bewohner meinte wohl bei einer der ersten Touren “Das ist ja die vierte Tragödie! Erst das Beben, dann der Tsunami, dann das AKW – und jetzt die ganzen Ausländer hier!”. Er meinte das jedoch nicht böse sondern schlichtweg ironisch.
Keine anderthalb Stunden später waren Portionen an über 250 Leute verteilt. Wir packten ein und machten eine kleine Inventur, um zu sehen, ob die kalkulierten Mengen pro Person reichen würden. Sie sollten. Wir fuhren weiter, und keine 5 Minuten später waren wir am nächsten, identisch aussehenden Lager. Dort ging es wieder wie gehabt los. Dort hatten wir sogar Schubkarren – das war praktisch bei 5-köpfigen Familien, deren Rationen für eine Einzelperson kaum zu tragen gewesen wären.
Convoy vor einem der Lager

Gegen 1 Uhr ging es schliesslich weiter zum letzten Einsatzort: Dabei handelte es sich um normale Wohnblocks, in denen Familien mit 6 und mehr Familienmitgliedern untergebracht wurden. In den Wohnblocks lebten die Flüchtlinge zusammen mit normalen Mietern. Wir hatten die Kisten jetzt schon im Voraus gepackt. Die Situation war aber insofern anders, dass wir die Kisten zu den Wohnungen tragen mussten – bis in den 5. Stock, ohne Fahrstuhl. Wer nicht da war, konnte nichts bekommen – da auch normale Mieter dort wohnten, konnten wir nicht einfach die Kiste voller Essen vor die Tür stellen. Also klingelten wir bei allen Familien, die sich gemeldet hatten. Nahezu alle waren da. Manchmal öffneten die Kinder die Tür – drei Kinder zum Beispiel, deren Eltern gerade nicht da waren. Manche waren sichtbar überrascht, als sie die Tür aufmachten und ich plötzlich davor stand… Unter den Leuten war auch ein Tattergreis, der recht lustig zu sein schien. Er kam direkt zu unserem LKW. Wir fragten ihn nach seiner Wohnungsnnummer, aber er sagte “Woher soll ich das wissen. Ist da hinten, kann ich Euch zeigen”. Vorher hatten wir alle Familien gebeten, so möglich, beim Tragen mitzuhelfen. Er konnte das offensichtlich nicht. Also trug ich die schweren Kisten hinter ihm her. Er fand sofort seine Wohnung, machte erstmal die Tür auf und rief “おっか! Okka!” – das Wort für Ehefrau im hiesigen Dialekt. Heraus kam eine junge, ca. 40 Jahre alte und offensichtlich kerngesunde Frau. Aber wer weiss – vielleicht war es auch seine Schwiegertochter. Aber beim Tragen hätte sie durchaus helfen können.
Man sollte auch erwähnen, dass es manchmal zu etwas seltsameren Reaktionen kommt. “Haben Sie Reis dieses Mal? Ohne Reis … also Reis wäre wirklich schön”. Ein anderer fragte einmal “Habt Ihr zufällig auch Bier dabei?” Jemand anders meinte “Die Pampelmusen könnt Ihr behalten, die kann ich wegen meiner Medizin nicht essen. Habt Ihr kein anderes Obst?”
Kurz vor 4 Uhr war alles verteilt. Fast alles. Ein bisschen war noch da, und das wollten wir den Freiwilligen geben, damit sie darüber nach ihrem Gutdünken verfügen können. Wir konnten und wollten nichts zurück nach Tokyo mitnehmen. Ein gewisser Herr Sasa von den Freiwilligen lud uns in sein Haus ein auf eine kurze Stärkung. Das macht er immer. Ein ganz formidables, prachtvolles Holz mit herrlichem kleinen Garten und geschmackvoller Innenausstattung. Der Herr ist Schreiner und versteht sein Handwerk. Und da sass nun eine ganze Meute ziemlich fertiger Ausländer und Japaner und bekam dort Curry und grünen Tee serviert.
Endlich, gegen 17 Uhr, wurde der Rückzug angeordnet. Wir mussten ja noch nach Tokyo zurück. Auf Wunsch eines einzelnen Mitreisenden ging es nochmal kurz zur Küste. Dabei gerieten wir auf eine kleine Strasse, die zur Schnellstrasse führte und am Ende des Flusstales lag, in dem der Tsunami wütete. Gute 2 Kilometer vom Wasser entfernt lag das Gebiet, doch überall lagen zerstörte Schiffe auf den Feldern und Strassen. Ein surrealer, verstörender Anblick, der die Wucht des Tsunami erahnen liess:

Nach einer kurzen Pause ging es schliesslich zurück nach Tokyo. Gegen 22 Uhr waren wir dort… und landeten wenige Kilometer vor dem Ziel noch in einem langen Stau. Da meine Arbeit getan war, verliess ich die Autobahn über eine sehr lange Treppe – einer der Notausgänge auf der meist sehr hoch gelegenen Stadtautobahn, und so war ich schliesslich gegen Mitternacht zu Hause. Das Ende einer 28 Stunden langen Tour. Über 40 Stunden ohne Schlaf (das kommt aber bei weitem nicht an meinen Rekord von ca. 70 Stunden, aufgestellt im Nahen Osten, heran). Eine Tour mit verstörenden Eindrücken. Ich hatte vorher Kriegsgebiete gesehen – zum Beispiel in Mostar oder Vukovar, aber das Mass der Zerstörung durch den Tsunami war nicht vergleichbar. Der Tsunami liess nichts übrig.
Aber die Tour vermittelte das Gefühl, etwas getan zu haben. Inwieweit die Lebensmittellieferungen etwas bewirken, bleibt dahingestellt. Es ist unwahrscheinlich, dass jemand ohne sie verhungern würde. Aber sie sind auf jeden Fall in psychologischer Hinsicht mit Sicherheit wichtig: Die Betroffenen merken, dass sich jemand kümmert. Auch das kann Leben retten, denn die Selbstmordrate ist Monate nach dem Beben im Nordosten in exorbitante Höhen geschnellt.

tabibito
tabibitohttps://japan-almanach.de
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

5 Kommentare

  1. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich den Wunsch nur geäußert hatte, nachdem du mir sagtest, das ihr auf der Hinfahrt an der Küste gewesen seid. Nachdem ich das erzählte, fanden sich schnell weitere, die “das will ich auch sehen” sagten. Das Telefon wurde dann nur mir rübergereicht und ich sollte vermittelnt

  2. @Ein einzelner Mitreisender
    Ist doch kein Problem :) Dass die anderen nicht dagegen waren, war schon klar – sonst hätte der Troß nicht kehrtgemacht. Da brauchst Du Dir wirklich keine Gedanken machen.

  3. Freut mich sehr, dass die Aktion so gut geklappt hat und den Leute etwas geholfen wurde.
    Was mich ein bisschen wundert, im Fernsehen scheinen derzeit andere Themen angesagt zu sein und es ist ein bisschen still um den Unfall geworden. Ist das nur mein Eindruck? Auf SPON habe ich vom dem Projekt des RSF gelesen, auch wenn dies nur ein Tropfen auf heissem Stein zu sein scheint, ist das doch eigentlich mal eine gute Nachricht wert oder hält es das japanische Fernsehen da so wie das deutsche Fernsehen?

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