BlogUnfall #3

Unfall #3

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Nein, vom Glück verfolgt werde ich dieses Jahr offensichtlich nicht. Erst mache ich Bekanntschaft mit einer Mauer, und zwei Wochen später passiert mir auf kerzengerader Strecke nachts gegen 10 Uhr in einem ruhigeren Wohngebiet folgendes: Ich höre – bei meiner Heimfahrt auf dem Fahrrad – rund 200 m vor mir Jemanden hupen, dann bemerke ich mir entgegenkommendes Scheinwerferlicht auf meiner Spur. Rund 100 m vor mir überfährt das Auto ungebremst eine rote Ampel, während es langsam auf seine Spur zurückkehrt – denke ich für einen Augenblick, doch in Wirklichkeit zieht es immer weiter nach rechts (von mir aus gesehen). Der Rest geschah ganz schnell: Das Auto, ein Taxi, beschleunigt weiter und fährt direkt über eine Art Leitplanke in einen Laternenpfahl. Die Wucht lässt das Auto rund einen Meter abheben – es dreht sich horizontal in der Luft um 180 Grad und kracht keine 5 m vor mir auf meine Fahrbahn, wo es rauchend stehenbleibend. Das war knapp. Ich stelle das Fahrrad ab, öffne die Beifahrertür und suche nach Lebenszeichen – der uralte Fahrer hat aber eine relativ regelmäßige und nicht allzu flache Atmung. Er ist nicht bei Bewusstsein… es sieht eher aus, als ob er schläft, und das war dann wohl auch der Fall – 居眠り運転 – inemuri unten – beim Fahren eingeschlafen.

Heute kam ich leider nicht so heil davon. Ich fahre eine breite Straße auf dem Weg zur Arbeit bergab – linkerhand, also auf meiner Seite, führt eine kurze Straße zum Rathaus von Meguro. Ich habe grün und weiß aus Erfahrung, dass ich auf der Strecke schnell auf gut 30 Stundenkilometer komme. Ein Rechtsabbieger wartet, dass er abbiegen kann — doch das Auto fährt einfach los, ohne mich zu bemerken. Ich hatte also die Wahl: Nahezu ungebremst gegen das Auto prallen. Oder beide Bremsen mit voller Kraft zu betätigen. Option 2 erschien mir gesünder — logischerweise blieb aber das Fahrrad schneller stehen als ich. Ich flog elegant über den Lenker, und landete — offensichtlich — auf beiden Knien, meinem linken Arm nebst Schulter, um dann kurz mit dem Gesicht den Asphalt zu küssen. Zum Glück mit Helm.

Die Fahrerin, eine 70-jährige Dame, und ein paar Passanten waren schnell zur Stelle. Die Dame war ganz aufgelöst, behielt aber halbwegs die Nerven und rief die Polizei. Die kam dann zur Unfallaufnahme, während ich mit der Dame unsere Adressdaten und Telefonnummern austauschte. Danach ging es erstmal irgendwie weiter zum Büro, doch der Schmerz im linken Hand wurde so stark, dass ich im Krankenhaus anfragte, ob man mich dort – nach 17 Uhr, denn davor hatte ich einen anderen, wichtigen Termin — begutachten könne. Man erlaubte mir nach einer kurzen Beschreibung meines Zustandes, zur Notaufnahme zu gehen. Der linke Arm schmerzte mittlerweile so sehr, dass ich bei jeder Bewegung fast das Bewusstsein verlor.

12 Röntgenaufnahmen später wusste ich bescheid: Prellungen an beiden Knien, massive Schürfwunden an Arm und Schulter, zum Glück kein Ellbogen-oder Schulterbruch, dafür aber einen Rippenbruch. Ich bekam ein Gutachten ausgestellt, in dem festgestellt wurde, dass ich zwei Wochen bis zur völligen Genesung brauchen werde. Und der Arzt, der ebenfalls fragte, was geschah, legte mir ans Herz, das Gutachten noch heute zur zuständigen Polizeistelle zu bringen.

Darob war ich etwas überrascht — also rief ich die Polizei an und bekam sogar einen der Polizisten an den Hörer, der den Unfall mit aufgenommen hatte. Dieser erklärte mir dann, das ich das nur einreichen soll, wenn ich der Dame große Probleme bereiten möchte. Die Polizei würde den Vorfall erst dann als 人身事故 einstufen – Unfall mit Personenschaden – und die Dame würde dann entsprechend mit Strafpunkten und Bußgeldern belegt werden.

Besagte Dame hatte sich jedoch bereits per Email gemeldet und ihre Versicherung in Gang gebracht – die Versicherung hatte auch schon versucht, mich anzurufen. In dem Fall, und da keine Spätfolgen zu erwarten sind, empfahl mir die Polizei, das ganze über ihre Versicherung abzuwickeln. Und das ist typisch Japan: Man versucht erst, Dinge aussergerichtlich/ausserpolizeilich zu regeln. Andererseits bedeutet dies auch, dass man den immer erstaunlich niedrigen Unfallstatistiken in Japan nicht wirklich trauen kann. Für mich wiederum bedeutet der Vorfall, dass ich nach 2 ½  Jahren Pendelei mit dem Fahrrad wieder auf den Zug umsteigen werde. Ich habe vorerst die Schnauze voll von fliegenden Autos und ignoranten Omas.

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Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei der Tabibitos Blog empfohlen.

17 Kommentare

  1. Zunaechst mal gute Besserung!!
    オバタリアン sind so ziemlich das Gefaehrlichste, was auf Japans engen Strassen kreucht und fleucht… In Sapporo ist mir vor Jahren mal auf leicht abschuessiger Strasse bei Schnee und Eis eine aeltere Radfahrerin vor einer Ampel unvermittelt vom Buergersteig vor den Wagen gefahren. Ich konnte den Wagen noch rechtzeitig zum Stehen bringen – zehn Zentimeter mehr, und sie waere samt Rad im Schnee und ich im Knast gelandet, weil bei einem Unfall zwischen Auto und Radfahrer mit Personenschaden erstmal prinzipiell der Autofahrer die Schuld hat. Ich habe gehupt wie’n Bloeder – die Olle hat sich nicht mal umgedreht…

    • Bitte um Übersetzung von オバタリアン .
      Übrigens rücksichtlose Menschen gibt es in jeder Altersgruppe.
      Ich bin mal von einem jungen Radfahrer, der auf der falschen Seite durch eine enge Straße Kyotos gerast war, leicht angefahren worden. Der ist einfach weitergefahren.
      Hatte danach einen Bluterguß am Arm vom Lenker.

  2. Auch von mir gute Besserung! Diese Woche habe ich rücksichtslose Autofahrer, aber auch Radfahrer und Fußgänger beobachtet. Zum Glück ist die Mehrheit doch nett und aufmerksam. Doch für mich ist es total nachvollziehbar, dass du jetzt wieder Mit dem Zug fahren wirst. Kannst du während der Zugfahrt lesen oder etwas entspannen? Schöne Grüße. Natalia

    • Vielen Dank, Natalia.
      Beim Zugfahren kann ich in der Tat einiges, was ich sonst nicht kann… Nachrichten schauen, Musik hören, Artikel schreiben (ist allerdings etwas eng dafür). Aber beim Radfahren wurde der Kopf freier… ist zwar eine unproduktive Zeit, half aber sehr beim Umschalten im Kopf…

  3. Hey, auch meinerseits gute Besserung! Mit ist in Taipei etwas ähnliches auf Inline Skates passiert- sehen wir es als einen kleinen Nudge, um nicht früher oder später unter dem 40-Tonner zu landen. Ich würde mir dennoch an deiner Stelle eine Routine zurechtlegen, um regelmäßig die damit wegfallende Bewegung nachzuholen, denn “unproduktiv” würde ich die Zeit nicht unbedingt nennen, für Körper und Geist hast du da ja (Unfälle außen vor…) ja eigentlich schon alles richtig gemacht. Naja, da erzähle ich dir ja vermutlich nichts Neues

    Gut auf jeden Fall, dass wohl keine Folgeschäden zu erwarten sind. Schone dich gut

    VG,
    Fabian

    PS: Der Hinweis mit den Statistiken ist sehr interessant und regt ja durchaus zum Nachdenken an…

    PPS: Ich habe letztens einen BR2 RadioFeature Podcast namens “Musikcafés in Japan” gehört. Obwohl ich leidenschaftlich gerne Musik mache und Japan schon ein bisschen kenne, sind die bisher komplett an mir vorbeigegangen. Hast du mit denen Erfahrung? Falls ja, kannst du da eines empfehlen?

  4. Ohje, ich bin zwar spät dran aber auch von mir die besten Genesungswünsche!
    Finde ich ja sehr nobel von Dir, dass Du aufs Anzeigen eines Personeschaden verzichtest hast. Ich hoffe die Oma hat sich dafür erkenntlich gezeigt und Du kriegst zumindest ein Schmerzensgeld von der Versicherung.

    Ich wette im Herbst, fährst Du wieder mit Fahrrad zur Arbeit.

    Gruss,

    Christian

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