Unter den Selbstständigen in Japan macht sich langsam Panik breit – der Grund ist das sogenannte インボイス制度, welches ab 1. Oktober 2023 in Kraft treten soll. Der Begriff setzt sich aus dem englischen Wort “invoice” (Rechnung) und dem japanischen Wort “seido” für “System” zusammen. Kurzum geht es hier um die Mehrwertsteuer.
Laut Finanzamt gingen 2020 insgesamt 2,92 Millionen Umsatzsteuererklärungen ein – 1,85 Millionen davon wurden von 法人 eingereicht und 1,07 Millionen von 個人1. Letztere sind Selbstständige, und von denen gibt es in Japan, Stand 2020, circa 2,87 Millionen. Bei Selbstständigen unterscheidet das Finanzamt dabei zwischen jenen, die Mehrwertsteuer entrichten (genannt 課税事業者) sowie jenen, die von der Mehrwertsteuerberechnung befreit sind, genannt 免税事業者. Laut der obigen Statistik bedeutet dies also, dass rund 1,8 Millionen Selbstständige in Japan von der Mehrwertsteuer befreit sind – vor allem die, deren Umsatz und deren Jahreseinkommen bei unter 10 Millionen Yen liegt.
Das neue (Ab)rechnungsgesetz betrifft ab 1. Oktober 2023 die bisher von der Mehrwertsteuer befreiten Eigenständigen, und zwar auf eine perfide Art und Weise. Laut neuer Regelung muss für jede Dienstleistung eine ordnungsgemäß erstellte Rechnung präsentiert werden – zum Beispiel unter Angabe der “MyNumber”. Dadurch wird dem Finanzamt ersichtlich, ob der oder die Selbstständige mehrwertsteuerpflichtig ist oder nicht. Firmen führen bekanntlich die Mehrwertsteuer an den Fiskus ab, die sie im Auftrag des Fiskus von ihren Kunden eingesammelt hat. Von dieser Summe wird jedoch der Betrag, den die Firma selbst an Mehrwertsteuer bezahlt hat, abgezogen werden. Genau hier liegt jedoch der Hund begraben: Mit der neuen Regelung kann die Firma nur die bezahlte Mehrwertsteuer abziehen, die sie an mehrwertsteuerpflichtige Dienstleister bezahlt hat. Was also ab nächstes Jahr passieren wird, ist folgendes: Eine Firma fragt Dienstleister A und nach B nach den Details der Dienstleistung. Dienstleister A ist etwas größer und mehrwertsteuerpflichtig. Dienstleister B ist kleiner und zahlt deshalb keine Mehrwertsteuer. Ist der Kostenvoranschlag von A und B ungefähr gleich, wird die Firma den Auftrag also eher an A vergeben – oder so lange den Preis von Dienstleister B drücken, bis sie den Mehrwertsteuerbetrag raus hat.
Das Gesetz hat durchaus auch Implikationen für den Einzelhandel, wie das folgende Beispiel zeigt: Ein Handwerker hat ein wichtiges Werkzeug zu Hause vergessen. Man geht also schnell in den kleinen Eisenwarenladen um die Ecke, betrieben von einem alten Ehepaar. Sind diese nicht mehrwertsteuerpflichtig, wird der Handwerker die 10% Mehrwertsteuer, die beim Kauf fällig wurden, nicht zurückerhalten (genauer gesagt kann er sie nicht von der eigenen Mehrwertsteuer abziehen). Die Wahrscheinlichkeit also, dass das Werkzeug dann doch lieber beim großen Baumarkt gekauft wird, steigt damit enorm.
Viele Selbstständige, vor allem jene mit geringem Umsatz/Einkommen, befürchten aus diesem Grund, ab Oktober nächsten Jahres benachteiligt zu werden. Dementsprechend waren zum Beispiel bei einer Befragung von freee Ende Oktober 2022 nur rund 4% dafür und 47% dagegen2. Der hohe Anteil derer, die weder dafür noch dagegen waren, zeugt jedoch von einem anderen Problem: Offensichtlich weiß der Großteil noch gar nicht, was die neue Regelung für sie nun bedeutet. Das Finanzamt betont, dass nicht jeder Selbstständige nun umsatzsteuerpflichtig werden muss. Doch ganz offensichtlich wird mit der neuen Rechnungsregelung starker Druck seitens des Marktes auf die Nichtumsatzsteuerpflichtigen ausgeübt, und keiner kann im Moment genau sagen, welche Auswirkungen dies konkret haben wird. Sicher ist nur eines: Leichter wird es für Selbstständige offensichtlich nicht werden.
Wer sich in das Thema richtig reinlesen möchte, findet hier die offizielle Seite der Steuerbehörde zum Thema.
Das hört sich sehr kompliziert an.
Bis 10.000 000 Yen = ca. 69.000 Euro steuerfrei?
Steuerregeln sind scheinbar überall kryptisch.
Ich kenne die genaue Situation in Japan nicht, aber für mich klingt das so, als könnte man statt “Kleinunternehmer werden zukünftig benachteiligt” auch sagen “Kleinunternehmer hatten bisher einen Vorteil, der zukünftig nicht mehr so groß ist”.
Angenommen A vermietet nur eine Ferienwohnung und muss keine Mehrwertsteuer auf die Einnahmen abführen. B vermietet mehrere Ferienwohnungen und muss auf jede Vermietung X Prozent Mehrwertsteuer abführen. Damit beide pro Vermietung den gleichen Gewinn machen, muss der Endpreis von B um X Prozent höher liegen. Wenn ein Unternehmer eine Dienstreise bucht, werden zukünftig die Nettopreise ohne Mehrwertsteuer (quasi die “eigentlichen” Einnahmen von A und B) verglichen. A hat trotzdem noch einen Vorteil, wenn eine Privatperson die Reise bucht, weil dann die Endpreise verglichen werden.
Die Mehrwertsteuer begleite ich hier seit ihrer Einfuehrung. Kurz vorher wollte ich es genau wissen und begab mich zum Finanzamt in Sagamihara, das damals fuer mich zustaendig war, weil ich wissen wollte, ob die 消費税 nun nach europaeischem oder nach US-Methode eingefuehrt wurde. Sofort umringten mich ein halbes Dutzend Finanzbeamte, bewirteten mich mit Senbei und Tee und fragten mir Loecher in den Bauch, wie das denn in Deutschland und in den Staaten laufen wuerde. Das war im Maerz 1989, kurz vor Einfuehrung der damals 3%igen Mehrwertsteuer – NIEMAND hatte beim Finanzamt Ahnung, was auf uns zukam… :-o
Anfangs war die Freigrenze sogar 30 Millionen Yen Jahresumsatz, damals stolze 400.000 DM… Seltsam deuchte nur, dass der Eierhaendler in der 商店街 ab Tag 1 Mehrwertsteuer aufschlug, obwohl man schon eine Menge Eier verticken musste, um auf 30 Mio Yen Jahresumsatz zu kommen…
Was erwaehnt werden sollte, ist, dass die Steuerfreigrenze fuer den Umsatz gilt, der der Umsatzsteuer unterlaege. Wer also 30 Mio. Yen Jahresumsatz hat und davon 25 Mio. Yen aus Exporterloesen, haette nur 5 Mio. Yen Umsatz, der umsatzsteuerpflichtig waere und ist nach derzeitiger Gesetzgebung nicht umsatzsteuerpflichtig.